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Römisch (oder) Katholisch? – heidnische Gedanken zum Christentum
Eines der regelmäßig wiederkehrenden Themen in den Diskussionen, die in diversen Foren geführt werden, welche heidnischer Spiritualität gewidmet sind, ist die deutliche Abgrenzung zum Christentum.
Dabei spielt es keine Rolle, welcher Tradition die Diskussionsteilnehmer sich selber zugehörig fühlen, eine – oft aggressive – antichristliche Einstellung scheint gleichermaßen der Selbstdefinition als „Heide“, wie auch als einigendes Band über alle paganen Traditionen hinweg, zu dienen. Man wird in jedem Forum mindestens eine Debatte finden, die thematisiert, wie die „einheimische Religion mit Folter und Schwert ausgerottet wurde„, wie die „Weisheit der Vorfahren“ brutal durch eine „geistige Besatzungsmacht“ ausgelöscht wurde, wie eine „Religion der Wüste ihre lebensfeindlichen Ideen in die heiligen Haine der stolzen lebensbejahenden Germanen“ trug und man kommt nicht umhin, hier ein recht verzerrtes Geschichtsbild zu sehen – das es aber schon seit den Anfängen der neopaganen Bewegung gibt.

Das gerne und oft zitierte Bild der im Heiligen Hain lehrenden Druiden prägt bis heute das Bild des sog. heidnischen Naturkultes
Diese ideologische Verortung in der Geschichte gehört zum Selbstverständnis der meisten Heiden und sie ist ein Zeichen dafür, wie stark sich diese Bewegung bis heute über das Christentum definiert.
Das Neuheidentum ist dabei einerseits von einem kontinuierlichen Pioniergeist beflügelt, der eine Alternative in heutiger Zeit (wie eben auch in all den Zeiten zuvor, seit es diese religiöse Richtung gibt) bieten möchte – auch hier gerade wieder besonders in Bezug auf das negative Bild, was man von der christlichen Religion zeichnet-, was Weltsicht, Lebensführung, geistige Werte etc. betrifft, bleibt andererseits jedoch stets in einer Defensivhaltung, denn man nimmt sich selber vor allem in der Position der Entrechteten wahr. Dies zeigt sich in der Wahrnehmung dessen, wie und warum die paganen Religionen ihren Status in historischer Zeit verloren haben, aber auch darin, daß man sich in der heutigen Gesellschaft als immer noch marginalisierte Gruppe begreift und in seinem Anliegen missverstanden fühlt, wobei sich beides in gewisser Weise bedingt.
Denn das, was viele Heiden als geschichtliche Entwicklung, die zur Ablösung der paganen Kulte durch das Christentum führte, mehr oder weniger verinnerlicht haben, ist nicht nur oft konträr zu den historischen Fakten konstruiert, sondern zementiert auch ein Feindbild gegenüber der sich – spirituell oder kulturell – als christlich verstehenden Mehrheitsgesellschaft. Vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung des Christentums, von den Anfängen als jüdische Splittergruppe in Palästina, über die Erhebung zur Staatsreligion im Römischen Reich bis hin zum Impulsgeber kultureller Entwicklung in späterer Zeit, wird dabei eine interessante Parallele deutlich zur Frage, wie sich ganz generell – eben auch heute – kleine gesellschaftliche Gruppen in einer Mehrheitsgesellschaft verhalten, resp. welche Optionen ihnen offenstehen, sich in dieser nicht nur zu behaupten, sondern in ihr zu einer maßgeblichen Kraft zu werden.
Innerhalb des römischen Rekonstruktionismus gibt es aufgrund einer ganzheitlichen Sichtweise von Religion, Kultur und Geschichte aus einer Perspektive ganz konkret bezogen auf die Entwicklung des Römischen Reichs, oft ein wesentlich ausgewogeneres Verhältnis zum Christentum, als dies etwa in germanisch orientierten paganen Gruppen der Fall ist, so daß wir an dieser Stelle einmal versuchen wollen, diesen alternativen Ansatz zu vermitteln.
Ein Blick in die Geschichte ohne eine ideologische Brille erschliesst dabei nicht nur interessante Details zur Entwicklung der europäischen Kultur, sondern erlaubt es vielleicht auch, neue Wege zu finden, damit sich ein heute gelebtes Heidentum nicht mehr nur als blosser Reaktionskult zum Christentum versteht, der sich in manchmal recht bizarren Schattenkämpfen mit christlichen Missionaren wie Willibrod oder Bonifatius verfängt und sich damit in seiner möglichen Akzeptanz für eine breitere Zielgruppe selbst blockiert.
Das Christentum – eine jüdische Sekte aus der Wüste?
Einer der vom historischen Gehalt her eher diffusen Aspekte der Ablehnung des Christentums durch Neuheiden – verwenden wir an dieser Stelle ruhig diesen durchaus korrekt beschreibenden Begriff, eben für jene, die sich in der Geschichte neu als Heiden verstehen, nachdem die „alten“ sich zum Christentum bekehrt hatten (oder in neopaganer Lesart – bekehrt wurden) – wird erkennbar durch die simplifizierende Wahrnehmung als „fremde Religion“ und die oft plakativ gebrauchte Bezeichnung „(jüdische) Wüstenreligion“.

Simpel und plakativ, aber dafür schön als Beweis für mangelnde historische Bildung und Kulturverständnis geeignet
Besonders oft findet sich diese Klassifizierung im germanisch-heidnischen Spektrum, wobei man durchaus von einer (gewollten oder unbewußten) Rezeption völkischer Ideen sprechen darf. Das Christentum wurde im Zuge der Germanen-Idealisierung und eines religiös überhöhten nationalen Selbstverständnisses innerhalb der völkisch orientierten Kreise bereits im 19. Jahrhundert zu einem Feindbild stilisiert, durch das man in geradezu bequem erscheinender Weise einen Doppelschlag gegen die als eigentliche Bedrohung wahrgenommenen Kräfte ausholen konnte – Judentum und Überfremdung. Das Christentum rückblickend wahrgenommen im historischen Gewand römischer Besatzungsmacht, als im Kern aber jüdische Lehre, die sich nun als „Sieger“ letztlich wieder in Rom, als Katholische Kirche, manifestierte, erschien wie der rote Faden in der Geschichte der Unterdrückung germanischer Wesensart – prägnant formuliert im trotzigen Wahlspruch Georg von Schönerers „Ohne Juda, ohne Rom / wird gebaut Germaniens Dom!“
Wenngleich heute in germanisch-heidnischen Gruppen – abgesehen von dezidiert völkisch gesinnten Vertretern – diese antisemitischen Töne nicht mehr den definierenden oder auch nur dominierenden Faktor bilden, so bleibt die Wahrnehmung der christlichen Religion als „uns fremd“, als „kultureller Fremdkörper“ bestehen und auf vielen Ebenen weiter wirksam. Ein genauer Blick auf die Entwicklung dieser Religion und ihre objektive Einordnung in den Kontext der europäischen Kultur, macht allerdings zweierlei deutlich:
Erstens:
Der Gallo-Römische Cultus – die Religion im „Römischen Germanien“
Heute möchten wir mit einem weitverbreiteten Mißverständnis aufräumen, das sich im Zuge der – vor allem im neuheidnischen Spektrum angesiedelten – Vorstellungen der „Religion unserer Ahnen“ oder der „ursprünglichen, vorchristlichen Religion in Deutschland“ verbreitet und Verwirrung stiftet.

Der gallische Gott Intarabus, gleichgesetzt mit Mars (bzw. dessen Erscheinungsform als Mars-Silvanus)
Den Folgen dieser Verwirrung begegnen wir gerade bei „Neueinsteigern“, die sich für den heidnischen römischen Rekonstruktionismus interessieren, leider immer wieder. Die allgemeinen Vorstellungen über vorchristliche Religion in Deutschland sind heutzutage so sehr durchsetzt von einem neuheidnischen Konglomerat aus „ur-germanischer“ Religion, Wikingerkulten aus Skandinavien, sowie modernen nicht-rekonstruktionistischen Strömungen, daß Ratsuchende, die sich speziell für die polytheistische Religion in „Roman Germany“ interessieren, mit einer ganzen Batterie aus ahistorischen und aus allen Richtungen zusammengeklaubten Vorstellungen bombardiert werden, deren Sinn und Authentizität, oder Mangel daran, sie noch nicht beurteilen können.
So braut man sich daraus oft eine eigene Mischung zusammen, die zwar eine persönlich befriedigende Religion darstellen mag (auf Neudeutsch nennt man diese Selfmade-Religionen heutzutage euphemistisch UPG -„Unverified Personal Gnosis“), vom Römischen Rekonstruktionismus ist man damit jedoch abgekommen, noch bevor man die ersten Schritte auf diesem Weg gemacht hat. Wenn man sich dann allerdings dem intensiven Quellenstudium widmet und sich intensiv mit Geschichte und Archäologie auseinandersetzt, fällt schnell auf, daß romantische Vorstellungen aus dem 19. und 20. Jahrhundert wenig mit der religiösen Wirklichkeit im romanisierten Teil Germaniens zu tun haben.

Epona, ursprünglich eine keltische Göttin, war im ganzen Reich sehr beliebt als Schutzgöttin der Pferde, Reiter, Reisenden und Fuhrleute
Nachdem wir kürzlich an einer ausgiebigen Diskussion teilnahmen, in der all diese Mißverständnisse wieder zutage traten, fanden wir es an der Zeit, einen Artikel zu dem Thema zu schreiben – der Informationsbedarf ist ganz offensichtlich da. Denn wenn sich diese Diskussionen immer nur im nicht-öffentlichen Rahmen abspielen, in persönlichen Unterhaltungen, per Email-Austausch oder geschlossenen Mailinglisten, dann führt das nur dazu, daß man die gleichen Diskussionen gebetsmühlenhaft wiederholen muß.
Dieser Artikel soll deshalb die immer wieder an uns herangetragenen Fragen und in epischer Länge von uns verfassten Antworten nun an einer zentralen Stelle zusammenfassen. Wir hoffen, dass dies sowohl ratsuchenden Neueinsteigern als auch generell interessierten Lesern (Heiden wie Nichtheiden) hilft, geschichtliche Entwicklungen und religiöse Vorstellungen im korrekten historischen Kontext zu verstehen.
Eine Frage – und viele verworrene Antworten
Kürzlich führten wir eine Diskussion mit einem Amerikaner, der sich für die heidnische Römische Religion – den Cultus Deorum Romanorum oder Religio Romana – interessierte. Da er sich einerseits stark für das Antike Rom und die damit verbundene Geschichte, Kultur und Religion begeistert, daneben aber deutsche Vorfahren hat, suchte er nach Informationen über und Rat oder Erfahrungen bezüglich der „synkretistischen Religion des Römischen Germaniens„, wie er das nannte. Sich mit dieser speziellen, lokalen Form der Religio Romana zu beschäftigen, sah er als idealen Weg an, sowohl das antike Rom, als auch seine Wurzeln zu ehren und beides auf harmonische Weise miteinander zu verbinden.

Der Celius-Stein ist der einzige (!) archäologische Hinweis auf die Varusschlacht. Mit dieser Niederlage endete die römische Präsenz in Germanien (Bonn, 2014)
Seine Frage bezog sich deshalb ausdrücklich auf das „Römische Germanien“, das heißt, auf die Provinzen des Römischen Reichs, die westlich des Limes und vor allem westlich des Rheins lagen und auf deren romanisierte Einwohner.
Was daraufhin geschah, war typisch. Er erhielt Antworten, die vollkommen an seiner Frage vorbeigingen, irrige Vorstellungen über den Begriff „Germanien“ demonstrierten und die üblichen geografischen, politischen und religiösen Mißverständnisse wiederholten, auf die wir immer wieder stoßen – übrigens nicht nur bei Amerikanern oder Bewohnern anderer Länder, die nicht auf dem Gebiet des ehemaligen römischen Reichs liegen (wie Lateinamerika, Asien oder dem Pazifikraum), sondern durchaus auch bei Europäern, insbesondere Deutschen, von denen man erwarten würde, daß sie sich besser mit der Geschichte ihres Landes auskennen sollten, zumindest, wenn sie sich gehalten fühlen, ihre Vorstellungen über „Germanien“ und „Germanische Religion“ in der Öffentlichkeit zu verbreiten.
Unqualifizierte Diskussionsbeiträge bezüglich der Römer, die (wie die Christen angeblich auch) die ursprüngliche germanische Religion mit Gewalt und Schwert „ausgerottet“ haben, kamen dabei wie selbstverständlich auch. Dieses Thema zu diskutieren, erfordert oft einen gewissen Langmut aufgrund der doch sehr verzerrten Sichtweise mancher Heiden, die mehr an emotional wirkenden Feindbildern interessiert sind, als an geschichtlichen Tatsachen, so daß ich das an dieser Stelle einmal höflich und dezent unter den Tisch fallen lassen möchte.
Eine der Antworten war zumindest „gut gemeint“. Sie stammte von einer jungen Frau aus Lateinamerika, die zugab, ebenfalls (wie der Fragesteller) neu im rekonstruktionistischen Cultus Deorum zu sein. Zwar bemüht sie sich redlich, den traditionellen römischen Riten und Praktiken zu folgen (wie Rituale am Lararium abzuhalten) und dabei auch die authentischen Quellen zu berücksichtigen und zu beachten. Daneben bezieht in ihre Sacra Privata, das heißt, in ihre persönliche religiöse Praxis, „germanische Götter“ ein und versucht, sie in ihre Kultpraxis zu integrieren, mixt dabei aufgrund ihrer eigenen, undifferenzierten Vorstellungen jedoch Elemente hinein, die aus rekonstruktionistischer Sicht nicht als authentisch betrachtet werden – etwas, auf das im Cultus Deorum jedoch Wert gelegt wird.

Apollo-Grannus, gallo-römischer Heil- und Quellgott. Darstellung mit Krug und Heilwasser (Bonn, Rheinisches Landesmuseum, 2014)
Die Integration fremder Götter ist aus Sicht der Religio Romana erst einmal überhaupt nicht verwerflich, sondern vollkommen in Ordnung. Die heidnische römische Religion zeichnete sich durch große Flexibilität und Aufnahmefähigkeit aus, was ein Grund für ihren Erfolg im gesamten Reich war – von Afrika bis Kleinasien, von Britannien bis Spanien. Römer leugneten niemals die Existenz anderer Götter, – ganz im Gegenteil – sie gingen davon aus, daß diese in ihren angestammten Siedlungsgebieten mächtig waren und Einfluß hatten. Diese einheimischen Göttern zu missachten, war nicht im Interesse Roms, weswegen man immer bestrebt war, diese Götter zu besänftigen, oder sogar auf die Seite Roms zu ziehen. Ihnen wurden Tempel errichtet und viele, ursprünglich lokale Gottheiten wie die ägyptische Isis, kleinasiatische Gottheiten wie Mithras und Kybele oder die gallische Epona gelangten im ganzen Reich zu großer Popularität und erhielten sogar Tempel in Rom selbst.
Jeder Einwohner des römischen Reichs war frei in seiner Religionsausübung und konnte privat im heimischen Kult verehren, wen auch immer er wollte, natürlich auch seine eigenen, lokalen Götter – wenn er sich an die gesetzlichen Grundregeln hielt, das hieß, keine Menschenopfer durchführte, die öffentliche Ordnung nicht gefährdete und die römische Staatsreligion respektierte. Viele lokale Gottheiten wurden mit römischen Gottheiten gleichgesetzt, wie der keltische Grannus, der zu Apollo-Grannus wurde, oder der germanische Magusanus, der als Hercules-Magusanus vor allem in Niedergermanien entlang des Rheins verehrt wurde. Details zur Integration „fremder“ Götter in die römische Religion finden sich in unserem ausführlichen Artikel zur „Interpretatio Romana„.
Rekonstruktionismus
Der Begriff Rekonstruktionismus (oder im Englischen Reconstructionism) wirkt auf den ersten Blick etwas sperrig und wird in verschiedener Weise und auch in einem religiös unterschiedlich definierten Kontext verwendet, so daß wir an dieser Stelle auf diesen Begriff eingehen wollen, um deutlich zu machen, was wir darunter verstehen und warum wir ihn verwenden.
Der Begriff – Ursprünge und Inhalte
Gibt man den Begriff in eine Internetsuchmaschine ein, so findet man Ergebnisse wie jüdischen Rekonstruktionismus, christlichen Rekonstruktionismus, polytheistischen Rekonstruktionismus etc., so daß schnell deutlich wird, daß wir es hier nicht mit etwas zu tun haben, was typisch für eine bestimmte Religion ist, sondern das es sich um einen Terminus handelt, der etwas beschreibt, was traditionsübergreifend zu finden ist.
Grundsätzlich ist mit einer rekonstruktionistischen Haltung gemeint, daß man zu den Wurzeln einer Religion zurückkehrt, respektive zu dem, was eine bestimmte Person oder Gruppe darunter versteht, wobei diese Religion nicht losgelöst von ihrem kulturellen Umfeld betrachtet wird, sondern beides miteinander in besonderer Beziehung steht.
In diesem Sinne etwa versteht sich der Christliche Rekonstruktionismus, der als ultrafundamentalistische, evangelikale Strömung in den USA zu finden ist. Diese auf den stark calvinistisch geprägten Theologen Rousas Rushdoony zurückgehende Bewegung ist bestrebt, unter Ablehnung der als unbiblisch verstandenen Demokratie, eine Theonomie, wenn nicht sogar Theokratie und eine strikte Anwendung des mosaischen Gesetzes in der heutigen Zeit und Gesellschaft zu etablieren, die Gesellschaft also auf Grundlage der in der Bibel zu findenden Vorstellungen neu zu gestalten, in ihrem Sinne zu „rekonstruieren“. Die Bibel wird hier nicht nur als Ausdruck des göttlichen Willens verstanden, sondern in ihr findet sich eine ganze Kultur abgebildet, die für diese Bewegung als normierend gilt. Christlicher Rekonstruktionismus sieht sich demnach ganz bewußt als eine auf diese Kultur bezogene Weltanschauung, die ihre Ziele auch und gerade politisch durchsetzen will, wie sie dies als Selbstbezeichnung ihrer theologischen Ausrichtung, der sog. Dominion Theology zum Ausdruck bringt.
Rekonstruktionismus als eigene jüdische Richtung (neben orthodoxem, konservativem und Reformjudentum) hingegen findet sich auf der völlig entgegengesetzten Seite dieses Spektrums: es ist eine Bewegung, die dem progressiven Judentum nahesteht und von Rabbi Mordecai Kaplan begründet wurde. Im Gegensatz zu einer fundamentalistischen Lesart wird hier Religion als ein Teil der generellen jüdischen Kultur verstanden und die Zugehörigkeit zu dieser Kultur definiert für den Einzelnen seine Weltanschauung. Dabei gilt etwa das, was in der Thora geschrieben steht, nicht als historischer Fakt oder als unumstößlich wahr, sondern wird als Ausdruck der Gedanken der eigenen Vorfahren betrachtet. Aussagen etwa über Gott oder die Beschreibung des Exodus, sind immer in erster Linie Aussagen einer ganz bestimmten Zeit und von Personen, die darüber berichten, die eigene Kultur also verstanden als Rezeptionsgeschichte der Erfahrungen von einzelnen Angehörigen dieser Kultur.
Es geht nicht darum, diese Vorstellungen in heutiger Zeit zu bewahren, nur weil sie in den heiligen Schriften niedergelegt sind, sondern darum, vor dem Hintergrund einer sich durch die Geschichte hindurch entwickelnden jüdischen Kultur zu eigenen Vorstellungen zu gelangen und damit die Entwicklung dieser Kultur mitzutragen und weiter voranzutreiben. Rekonstruiert wird hier also viel eher ein kulturelles Selbstverständnis, das auch religiöse Ideen umfasst, sich aber nicht darin erschöpft. Kaplan fasste das Grundprinzip seines so verstandenen rekonstruktionistischen Ansatzes, Judentum als Zivilisationsmodell zu verstehen, in drei Worten programmatisch zusammen: belonging, behaving, believing.
An erster Stelle steht demnach die Zugehörigkeit (belonging) zur jüdischen Kultur, diese führt zur Beschäftigung mit den in ihrer Geschichte tradierten Werten, welche einen Rahmen für die eigene Positionierung in der Gesellschaft bieten. Diese Ideale und Werte, an die man sich hält (behaving) begründen wiederum den Kontext, innerhalb dessen sich die persönlichen religiösen Überzeugungen ausbilden können (believing).
Diese Form eines rekonstruktionistischen Ansatzes ist dem in gewissen Punkten ähnlich, was uns an dieser Stelle interessiert – Rekonstruktionismus im Paganismus, genauer natürlich im römischen Kontext.
Wobei als interessante Tatsache anzumerken ist, daß alle diese Ideen zeitlich nahe beieinander aufgetreten sind, denn es sind die 70er bis 90er Jahre des 20. Jahrhunderts, die sowohl die christlich-fundamentalistische, die jüdisch-progressive, wie auch die heidnische Variante des Rekonstruktionismus hervorgebracht oder etabliert haben, obwohl sie nur ansatzweise etwas miteinander gemeinsam haben.

Obwohl Aleister Crowley sich auf die „alten ägyptischen“ Mysterien berief, sah er die paganen Religionen als auch das Christentum durch seine neue Lehre als überholt an
Im Neopaganismus, also in den Bewegungen, deren Anliegen die Wiederbelebung vorchristlich/heidnischer Religionen ist, findet sich ebenfalls in dieser Zeit eine Diskussion, die sich darum drehte, wie man eigentlich diese ursprünglichen religiösen Vorstellungen und Praktiken in unserer Zeit leben kann, ja ob das überhaupt geht, oder auch nur sinnvoll ist und vor allem, was tatsächlich zu diesen ursprünglichen Aspekten gehört und was nicht.
Die Wurzeln der „neuheidnischen“ Ideen liegen im 18./19. Jahrhundert in den Strömungen des Philhellenismus, des Klassizismus und der Romantik, wobei hier allerdings eine – oft schwärmerische – Rückbesinnung auf die Antike begrenzt war auf Architektur, Literatur und Kunst und es sich nicht um eine Bewegung handelte, die in besonderer Form eine religiöse Alternative geboten hätte, oder bieten wollte.
In den esoterisch-hermetischen Gemeinschaften, wie etwa den Rosenkreuzern oder dem Hermetischen Orden der Goldenen Dämmerung, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts aktiv wurden, findet sich eine Vorstellung, die die alten Religionen als Bewahrer eines besonderen – esoterischen – Wissens ansah, dabei aber vorrangig von ägyptischen Mysterien fasziniert und daran orientiert blieb. Aleister Crowley sprach, wenn auch eher in Nebensätzen, generell von den Vorzügen der heidnischen Religionen gegenüber dem Christentum, betrachtete aber beide Traditionen durch seine Thelema-Offenbarung als abgelöst und überholt. In England formierten sich die ersten Druidenorden in Anlehnung an die Freimaurerei und verbanden den Bruderschaftsgedanken mit einer allgemeinen Keltenbegeisterung, ohne daß hier eine tatsächliche Wiederbelebung keltischer Religion praktiziert wurde.
Erst als der Okkultist Gerald Gardner die Wicca-Bewegung ins Leben rief und mit der Behauptung öffentlich auftrat, er sei in England in eine solche „uralte pagane Traditionslinie“ initiiert worden, traten die indigenen Religionen abseits der geheimnisvollen Mysterien Ägyptens stärker in den Vordergrund.
Da es aber für den in diesem Bereich bewanderten Interessierten schnell klar wurde, daß man es bei Wicca nicht mit einer im Untergrund überlebenden paganen Tradition zu tun hat, sondern es sich um eine synkretistische Neuschöpfung handelt, bestehend aus mythologischen Versatzstücken mit starken Anleihen aus der hermetischen Magie und generellen okkultistischen Aspekten, kamen schnell grundsätzliche Fragen auf. Diese bestanden einerseits darin, die Behauptungen der sogenannten „Hexenreligion“ auf ihre historische Relevanz und Validität hin zu überprüfen und andererseits darin, generell zu überlegen, wie sich indigene pagane Traditionen wohl entwickelt hätten, wenn es nicht zu einer Christianisierung gekommen wäre und welche konkreten Spuren sie nach dieser tatsächlich hinterlassen haben.
Solche Überlegungen waren der Beginn dafür, daß sich Einzelne besonders mit dem zu beschäftigen begannen, was spezifische kulturelle Traditionen – also die der Germanen, der Kelten, der Römer etc. – sozusagen in ihrem „Nachlass“ noch an Ideen und Praktiken für die heutige Zeit bieten konnten.
Traditionen zwischen Mythen & Märchen
In der Folge wurde vor allem für die Germanische Religion – die im neopaganen Spektrum schon früh und stark präsent war – versucht, eine gewisse ungebrochene Traditionslinie zu finden, die, wie man überzeugt war, unter einem offensichtlich nur oberflächlichen christlichen Anstrich verborgen lag.
Tutelar Gottheiten
Wie bereits im Artikel zum Aufbau eines Larariums erwähnt, ist es für die Praxis des Cultus nicht entscheidend, möglichst viele Götter miteinzubeziehen, ja, auch nicht anzuraten.
In der Religio Romana werden die einzelnen Götter verstanden als Teilaspekte einer als umfassend begriffenen Wirklichkeit, in die unsere Welt und unser Leben eingebunden ist. Die Beziehung des Einzelnen zu dieser Wirklichkeit gestaltet sich deswegen auch im Sinne einer besonderen Auswahl und basiert auf dem oft sehr engen Verhältnis zu einer oder mehreren Gottheiten. Dabei kann es sein, dass ein Cultor aus diversen Gründen ein besonderes Verhältnis zu einer Gottheit entwickelt, mit der er sich dann im Laufe der Zeit näher beschäftigt, was diese persönliche Beziehung dann begründet und festigt, oder es kommt vor, wie wir es auch aus den mythischen Erzählungen kennen, dass eine Gottheit sich im Leben eines Menschen manifestiert, ihn quasi erwählt.
Werden solche besonderen Beziehungen zwischen Menschen und bestimmten Göttern gepflegt, die sich eben auch in einem kultischen Dienst an der Gottheit ausdrücken, spricht man von einer „Tutelargottheit“.
Was bedeutet Tutelar?
Der Begriff geht auf das lateinische Wort „tutela“ zurück, was je nach Kontext Obhut, Schutz, Fürsorge, Schutzherr oder auch Schützling bedeutet und einen der grundlegenden Aspekte der römischen Religion anspricht. Generell war die Idee schon früh präsent, dass Orte, bestimmte Berufe und Tätigkeiten, einzelne Personen, ja ganze Städte und das Imperium Romanum als ganzes unter dem Schutz einer göttlichen Kraft stehen konnten und oft genug auch standen. Diese Sichtweise war in gewisser Weise geprägt durch die Tatsache, dass im Leben der Römer solche Schutzverhältnisse generell eine besondere Rolle spielten.
Der Paterfamilias etwa, das Oberhaupt einer Familie, übte eine Vormundschaft (patria potestas), die eben auch Schutz beinhaltete, über alle Mitglieder der Familie aus. Diese Verfügungsgewalt übte er nicht nur über seine Frau und seine Kinder aus, sondern sie bezog sich auch auf die angeheirateten Frauen seiner Söhne, deren Kinder, auf alle Sklaven im Haushalt, sowie grundsätzlich auf das gesamte Vermögen. Es war ebenfalls seine Aufgabe für die ganze Familie den häuslichen Kult mit allen religiösen Verpflichtungen wahrzunehmen. Starb der Vater, wurden die Söhne freie Männer im rechtlichen Sinne (sui iuris), während die Töchter in eine tutela mulierum, eine neue Vormundschaft, eintraten, die entweder der Vater im Testament verfügte, oder welche durch die Tochter selbst gewählt werden konnte. Die Person, die mit der Obhut betraut wurde, hieß Tutor (was heute noch an der Universität oder in anderen akademischen Bereichen als Begriff für jemanden gebraucht wird, der andere unterweist, ihnen hilft, sie anleitet. Studenten die sich in einem Tutorium befinden, besuchen Kurse, in denen sie studienrelevante Kenntnisse und Fähigkeiten durch einen Tutor vermittelt bekommen).
Es war also nur konsequent, dass man davon ausging, dass es zwischen Menschen und Göttern ähnliche Schutzverhältnisse geben konnte, die sich entweder durch das Einbinden in den häuslichen Kult äußerten, das Mitführen von kleinen Figuren der Gottheit oder auch bestimmte Eidverpflichtungen zur Folge haben konnten. (Im nordgermanischen Heidentum kennt man den sog. fulltrui, also den Gott seines Vertrauens, den Gott, in den man sein volles Vertrauen setzt und mit dem man auf ähnlich enge Weise verbunden war – resp. im heutigen Asatru immer noch ist).

Göttin Tutela
Im römischen Reich selbst, welches im Grunde genommen wie ein übergrosses Äquivalent zur Familie gesehen wurde, nahm quasi der Imperator die Stelle und Funktion des Paterfamilias ein, die von ihm ausgeübte Verfügungsgewalt – im Idealfall verstanden als Proklamation einer moralischen Selbstverpflichtung des Kaisers, als Schutzherr über alle Schutzbedürftigen im Imperium zu agieren -, wurde entsprechend als Tutela Augusti bezeichnet.
Die Schirmherrschaft über das Reich wurde später in der Kaiserzeit als eigene Göttin personifiziert und unter die vergöttlichten Tugenden wie Spes, Victoria, Concordia, Aequitas etc., auf denen das Imperium im Ideal basierte, aufgenommen.
Im Verständnis der Menschen damals blieb dies aber nicht einfach ein vom Alltagsleben getrennter Aspekt des Staatskultes, welcher durch allegorische Personifikation seinen Idealen Ausdruck verlieh, sondern es hatte ganz praktische Bedeutung für den Cultus eines jeden. In diesem Sinne wurde Tutela im Zuge dieser neuen Entwicklung in den häuslichen Kult integriert, wo sie in enger Beziehung zum Genius stand und sie wurde vor allem in den westlichen Provinzen des Reiches als Schutzherrin ganzer Städte verehrt, die nicht in Beziehung zu einer anderen Gottheit standen. Dadurch wurde dieses Vakuum gefüllt und die Stadt und ihre Bewohner unter die Göttin der Schutzherrschaft selbst gestellt, anstatt unter den allgemeinen Schutz eines bestimmten Gottes. Besonders aus Gallien sind entsprechende Statuen und symbolisch aussagekräftige Darstellungen dieser Göttin bekannt.
Wie findet man ’seinen‘ Gott?
Gründe, sich einer bestimmten Gottheit näher zu fühlen, mag es viele geben und sie sind so individuell wie die Cultores, die die Religio Romana praktizieren. Es kann eine Verbundenheit sein, die aus bestimmten Interessen erwächst, etwa wenn ein Arzt sich ganz natürlicherweise dem Aeskulapius nahe fühlt, in ihm Inspiration und Vorbild gleichermassen zu finden hofft. Oder es gibt ein einschneidendes Erlebnis an einem Ort, welcher einer bestimmten Gottheit heilig ist, es mag ein Traum sein, der symbolträchtig genug ist, dass er auf einen bestimmten Gott hinweist, ein Gedicht, das einen berührt.
Ich möchte beispielhaft an meinem Fall darlegen, wie so ein Tutelar das ganz konkrete Gesicht einer langen und natürlichen Entwicklung sein kann und sich als solches am Ende einer persönlichen Reflektion als Schlusstein in diesen Prozess einfügen kann.
Es gab es zu Anfang keinen besonderen Bezug zu einer einzelnen Gottheit, die Religio Romana war – und ist – für mich durch den Charakter der Sacra Privata gekennzeichnet, sprich, es geht mir in erster Linie nicht um eine gemeinschaftliche Ausübung oder ein primär nach außen gerichtetes Praktizieren (dieser Blog mag dem auf den ersten Blick widersprechen, ist aber eher im Sinne einer öffentlich zugänglichen Reflektion über unseren Weg zu verstehen, wir wollen sicherlich informieren, aber nicht missionieren), sondern darum, diesen spirituellen Weg als meinen persönlichen zu sehen und mit meiner Lebensgefährtin zu gestalten.
Das hängt sicherlich damit zusammen, daß ich früher viele Jahre im Asatru aktiv war und in dieser Zeit weitaus eher im Sinne der – bleiben wir einmal bei den römischen Begriffen – Sacra Publica handelte und dachte. Heidentum war lautstarkes Bekenntnis für unsere ‚germanischen Wurzeln‘ und gegen die ‚fremde christliche Besatzungsreligion‘ und war geprägt durch eine aktive Mitgliedschaft in den namhaften internationalen Organisationen, die heute die germanische Religion vertreten, am Anfang der Odinic Rite, später The Troth. Gründung einer lokalen Gruppe, eines sogenannten Hearths, ergab sich dabei folgerichtig aus diesem nach aussen wirkenden Ansatz.
Als Asatruar war ich besonders den Göttern Odin und Thor verbunden, die mich auf verschiedenen Ebenen gleichermassen ansprachen, durch meine Studien der Runenmagie war zu Anfang für viele Jahre Odin mein Fulltrui. Später allerdings, als ich mich mehr und mehr davon abwandte, was mir als reine Projektion hermetisch-magischer Vorstellungen auf eine wie auch immer geartete germanische Zeit erschien, wurde mir der bodenständige Rotbart ein guter Freund und damit der Gott, in den ich ‚mein volles Vertrauen setzte‘, was wie schon erwähnt, die eigentliche Bedeutung des nordischen Wortes Fulltrui ist.
Über die Zeit hinweg kam es zu einer Abwendung vom Asatru, bedingt durch persönliche Enttäuschungen, die ich auf dieser Ebene widerspiegelte, durch eine Unzufriedenheit mit der Gestaltung dieser Religion durch die diversen Gruppen und ganz zum Schluss auch durch die immer mehr sich Bahn brechende Erkenntnis, das in der Region, in der ich lebe, das so lautstark verkündete ‚Nordische‘ weitaus weniger historischen Anspruch auf eine Verwurzelung hat – nämlich gar keinen -, als etwa das Christentum, das zumindest in seiner Römisch-Katholischen (aber auch Orthodoxen Form) im Grunde eine Mysterienreligion nach genuin römischem Verständnis darstellt und in ungebrochener Traditionslinie aus eben heidnischer Zeit stammt, in der es seine Form fand. Die eigene Verortung in diesem germanisch-heidnischen Bezugsrahmen, oder das, was man dafür hält, funktionierte nicht mehr und die Bilder verblassten nach und nach, weil sie aufgesetzt wirkten – und letztendlich auch waren.
Nach einer 10-jährigen Phase intensiver buddhistischer Studien und Praxis, in der ich viel gelernt habe, gerade auch über Symbole und was sie ausdrücken können, kam das alte Unwohlsein wieder zum Vorschein, welches mich bereits bei meinem ’nordischen Weg‘ befallen hatte – das starke Gefühl, dass spirituelle Praxis sehr wohl etwas mit Geschichte und Ort zu tun hat, es in beidem ganz konkret zu finden sein muss, soll es authentisch sein. Und da passte Buddha ebensowenig in das Land, in dem ich lebe, wie Odin; japanische Rezitationen wirkten irgendwann ähnlich fremd wie Anrufungen auf Altnordisch (das ich mit Begeisterung an der Universität erlernt hatte) – wobei ich in all den Jahren gleichwohl immer gefühlsmässig Heide geblieben war (was sich grundsätzlich mit buddhistischer Praxis nicht beisst, die verstanden als Erkenntnislehre ganz praktischer Art mit diversen religiösen Vorstellungen kompatibel ist).
Im Zuge einer Rückbesinnung auf diese gefühlsmässige Ebene, die ich wieder als Basis für mich anerkannte, begann ich erneut, mich mit dem zu beschäftigen, was man den Alten Weg nennt und auf einmal, quasi befreit von den unreflektierten Ideen einer romantisch-naiven ‚Wikingerbegeisterung‘ (die für einen Grossteil der heutigen Asatrugemeinschaft prägend ist) trat dieser Weg in seinem Kontext recht schnell sehr deutlich zutage. Dass wir heute in einer Kultur leben, die als Transformation der römischen angesehen werden kann, dass das Imperium Romanum, welches in einem sehr grossen Teil Deutschlands absolut prägend war (und es bis heute ist) unsere so mühsam angestrebte und eher mangelhaft umgesetzte Idee eines Europa bereits als perfekt funktionierende Struktur vorwegnahm, dass Germanen von mir heute – ähnlich wie von den Römern in ihrer Zeit – ebenfalls eher als ‚barbarisch‘ weil oft genug zerstörend wirkend, denn als Garanten einer hochstehenden Zivilisation angesehen werden, dass hier in meiner Geschichte und meinem Ort der Alte Weg eben nicht mit dem nordischen Begriff ‚Forn Sidhr‚ (‚Alte Sitte‘) treffend bezeichnet werden kann, sondern eher mit dem lateinischen Mos Maoiorum!
Ausgehend von dieser Erkenntnis und der damit einhergehenden Neupositionierung, aber eben durchaus im Sinne meiner alten Orientierung, war auch der Weg wieder frei zu den Kräften, in die ich früher mein Vertrauen setzte. Die Präsenz, die man im Norden Thor nennt und die in Germania Magna wohl Donar genannt wurde, wurde von den Kelten, Germanen und Römern, die im ‚deutschen‘ Teil des Imperiums lebten, als Hercules bezeichnet, je nach Region mit anderem Beinamen versehen und etwa als Hercules Magusanus, Hercules Deusonianus oder Hercules Saxanus angesprochen. Ihm wurden mannigfach Altäre geweiht und er gab Kraft und Zuversicht, die Aufgaben zu erfüllen, die einem das Leben stellt. Man trug hier keinen Thorshammer, sondern eine Herkuleskeule als Miniatur am Hals, um sich seiner Kraft und seines Schutzes zu versichern. Ebenso wie der germanische Gott Wodan hier von den Römern mit ihrem Mercurius identifiziert wurde und wir deshalb überall Merkurtempel finden können, die Zeuge seiner Beliebtheit sind. Diese als Interpretatio Romana bekannte Methode der Angleichung und Eingliederung fremder Götter in den römischen Pantheon war der Grundstein der Religionsfreiheit und des Religionsfriedens im Römischen Reich.
Zu dieser Neufindung meiner persönlichen Götter im Rahmen eines ‚Heidentums‘, authentisch in Bezug auf die Historie, das genuin aus unserer Geschichte und Region erwachsen ist, kam die Tatsache hinzu, dass Herkules ebenfalls erwählter Gott der Stoiker war, die in ihm das Idealbild sahen, welches die Selbstdisziplin und Ausdauer verkörpert, die für den Lebensweg des Philosophen essentielle Eigenschaften darstellen. Seine Entscheidung für ein beschwerliches, aber tugendhaftes Leben und gegen ein müheloses, aber verwerfliches Dasein wie es im Mythos ‚Herkules am Scheideweg‘ oder auch manchmal mit ‚Die Wahl des Herkules‘ wiedergegeben, geschildert wird, erinnerte die Stoiker an eben jene Entscheidung, die sie selber getroffen hatten.
Meine buddhistischen Studien vermittelten mir Einsichten, die man in der Stoa wiederfindet, oftmals wörtlich identisch formuliert, und die allegorische Deutung der herkuleischen Mythen im Sinne des stoischen Lebensideals festigten meine Beweggründe, Herkules als meinen Tutelar zu wählen – resp. anzuerkennen, dass er es ganz natürlich ist, mag ich ihn früher auch Thor genannt haben.
Dies soll zeigen, wie gehaltvoll die Figur einer solchen Tutelargottheit sein kann, wie sehr darin persönliche Geschichte und das Ringen (bleiben wir bei einem herkuleischen Bild) um die eigene Lebenspositionierung manifest werden können. Ist dies der Fall, dann wird das Numen eines Gottes zu einer machtvollen Präsenz im Leben des Einzelnen, die unabänderlich mit seinem Sein und Werden verbunden ist und bleibt. Vor dem Hintergund einer solchen persönlichen Beziehung werden die Orte, die mit der Verehrung dieser Gottheit verbunden sind, werden die Mythen, die man sich von ihm oder ihr seit alters her erzählt, zu einem besonderen Kraftquell und individuellen Bezugsrahmen.
Allerdings zeigt dieses Beispiel hoffentlich auch, dass eine oberflächliche Wahl, eine ohne wirklichen (Hinter)grund getroffene Entscheidung für einen solchen Tutelar, dies nicht erreichen kann und wenig Sinn macht. Auch hier wieder die Betonung, dass in der Religio Romana weniger oftmals mehr ist… es geht nicht um das Sammeln von Göttern in seinem Sacrarium, sondern um das Hinhören in die gehaltvolle Stille bei Gebet und Opfer, damit man eine möglicherweise bereits bestehende, oder sich anbahnende Beziehung zu einer der Gottheiten nicht überhört.
Was bleibt zu beachten?
Wenn man einen Tutelar gefunden hat, dann sollte man dies ganz natürlich in die rituelle Gestaltung des Cultus miteinfliessen lassen. Neben der Tatsache, dass er oder sie immer Erwähnung finden sollte, wenn man sein tägliches Gebet und Opfer bringt (oder zumindest an den Kalenden, Nonen und Iden), sind die der persönlichen Gottheit gewidmeten Feiertage im Kalender besondere Zeiten und sollten beachtet werden.
Grundsätzlich bietet sich an, diese persönliche Beziehung zum Anlass zu nehmen, in den Quellen alles über diese Gottheit in Erfahrung zu bringen, etwas was einem sehr schnell wie ein immer besseres Kennenlernen erscheinen wird und hilft, tatsächlich eine Beziehung zu dieser Präsenz aufzubauen. Findet man Hymnen und Invokationen, die schon in alter Zeit zur Verehrung dieser Gottheit gesprochen wurden, bringt es für den eigenen Cultus eine völlig neue Relevanz, wenn man sie integriert. Aber letztlich ist die Gestaltung dieses persönlichen Bezugsrahmens ebenso vielfältig wie die Zahl der Götter selbst… 🙂