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Die Interpretatio Romana: Identifikation fremder Götter mit römischen Gottheiten
Immer wieder hört man (oft von Einsteigern in den römischen Cultus oder aus anderen polytheistischen Richtungen stammenden Heiden) gestellte Fragen wie: „Welchem römischen Gott entspricht der keltische Gott Lug?“ oder „Sind römische Götter nicht einfach griechische Götter mit anderen Namen?“ oder „Ich habe eine besondere Beziehung zum ägyptischen Gott Ra, welchem römischen Gott entspricht das?“ oder „Sind Diana und Artemis die gleichen Personen?“.
Diese Fragestellungen greifen zu kurz, denn sie setzen voraus, daß es bei den Römern eine Art „1:1 Umsetzungstabelle“ zwischen „fremden“ Göttern und römischen Göttern gab. Es werden einfache Listen erwartet, wie jeder sie von den Entsprechungen der 12 olympischen Göttern der Griechen mit den 12 Dei Consentes der Römer kennt: Jupiter = Zeus, Hera = Juno, Poseidon = Neptun, Merkur = Hermes oder Ares = Mars.
Tatsächlich sind nicht einmal diese allseits bekannten Gleichsetzungen der 12 höchsten Götter exakte Übertragungen identischer Gottheiten unter anderem Namen, sondern ihre Persönlichkeiten, Charakteristika und Zuständigkeiten sind zwar sehr ähnlich und wurden zum Teil von einer Kultur in die andere übertragen, gleichzeitig nahmen sie aber auch in der römischen Religion eine andere Entwicklung mit neuen Eigenschaften, Genealogie oder neuen Zuständigkeitsgebieten.
Ein sehr gutes Beispiel bietet die Frage: „Sind römische Götter nicht einfach griechische Götter unter anderem Namen?„:
Gleichzeitig zu den zuvor aufgezählten griechischen Entsprechungen, gibt es zu den 12 römischen Dei Consentes auch etruskische Gleichsetzungen. Viele davon sind originär etruskisch-italische Götter, die nicht (wie z.B. der etruskische Apulo = Apollo oder Artumes = Artemis) aus Griechenland importiert wurden. Tatsächlich ist nicht immer klar, welche Dei Consentes ihren Einzug in die römische Götterwelt über die griechische Kultur gefunden haben (die gerade zur Zeit der Republik extrem populär und angesagt war) oder ob sie aus der etruskischen Kultur stammen, die der römischen Kultur in Italien vorausging und von ihr assimiliert wurde – wobei auch die Etrusker und Griechen in regem kulturellem Austausch miteinander standen und sich gegenseitig beeinflussten.

Der gallische Gott Intarabus, gleichgesetzt mit Mars (bzw. dessen Erscheinungsform als Mars-Silvanus)
Ein Beispiel hierfür ist Menerva (gleichgesetzt mit Minerva / Athene), eine originär etruskische Göttin der Weisheit und des Kampfes. Ihre Eltern sind Uni und Tinia und nach ihnen ist sie die höchste Himmelsgottheit und Teil der göttlichen etruskischen Dreiheit. Diese wiederum ist Vorbild für die römische kapitolinische Trias aus Jupiter, Juno und Minerva.
Ein anderes interessantes Beispiel ist Laran (Ares, Mars), ein alter etruskischer Erd- und Fruchtbarkeitsgott, der später auch Kriegsgott wurde. So kann Laran durchaus dafür verantwortlich sein, daß der römische Mars nicht nur ein klassischer Kriegsgott ist, sondern auch als Beschützer der Felder, des Viehs, der Höfe und der Grenzen gilt – was wiederum später zur Gleichsetzung mit dem gallischen Gott Intarabus führte, der gar keine Funktion als Kriegsgott hat, sondern als lokaler genius loci Schutzherr der Felder und der Landwirtschaft ist.
Auch Selvas war ein originär-etruskischer Gott, der mit dem römischen Vegetationsgott Silvanus gleichgesetzt wurde. Da Silvanus ebenfalls die Felder und Landwirtschaft beschützt, wurde er im römischen Cultus zum Teil zu Mars-Silvanus verschmolzen. Die Gleichsetzung mit dem gallischen Intarabus als Mars-Intarabus bezieht sich deswegen wahrscheinlich auf diesen Mars-Silvanus-Aspekt und nicht auf den kriegerischen des klassischen Mars.
Allein diese Beispiele zeigen, daß eine einfache 1:1 Übertragung nach dem Motto: „Dieser Gott ist jener Gott“ nicht sinnvoll ist. Denn in der Regel bezieht sich eine Übertragung nur auf einen Teilaspekt, manchmal eine einzige isolierte Zuständigkeit, während andere Zuständigkeiten und Aspekte vollkommen ausgeblendet werden. Auch beeinflussen assimilierte Götter anderer Kulturen wiederum die Ausprägungen bekannter Götter oder fügen diese neue Zuständigkeiten oder Persönlichkeitsaspekte hinzu.
Was ist „Interpretatio Romana“ überhaupt?
Der Begriff „Interpretatio Romana“ (Latein für „römische Auslegung“ oder „römische Deutung“) bezeichnet die römische Sitte, „fremde“ Götter (worunter in diesem Artikel der Einfachheit halber immer Götter und Göttinnen gefaßt sind) durch funktionale Identifikation mit römischen Göttern in die eigene Religion und den römischen Cultus aufzunehmen.
Römer bezweifelten niemals die Existenz anderer Götter. Für sie stand es völlig außer Frage, daß es Götter und Göttinnen in anderen Ländern gab, deren Namen, Zuständigkeiten, Funktionen oder Geschlecht sie nicht kannten. Sie bezweifelten nicht einmal, daß es in ihrem eigenen Reich, ja, sogar mitten Rom, Götter gab, die ihnen nicht bekannt waren.
Gleichzeitig waren sie davon überzeugt, daß Götter anderer Völker, insbesondere der Völker, gegen die man Krieg führte oder die man unterworfen hatte, in ihren angestammten Heimatregionen besonders stark waren und viel Einfluß hatten – es bestand die reale Chance, daß ein lokaler Gott vor Ort mächtiger war als ein Gott im fernen Rom, der in der Provinz wenig Einfluß hatte.
So machte es für den Römer vollkommen Sinn, sich auch an die Götter zu wenden, die an seinem aktuellen Aufenthaltsort Einfluß und Macht besaßen, selbst wenn sie sehr lokal waren. Es konnte nicht schaden, sie in seinen Cultus zu integrieren und sich mit Anliegen an sie zu wenden. So wandte sich ein Römer an der Mosel, wenn er krank war, sicher eher an den gallischen Heilgott Lenus (in seiner Form als Lenus-Mars), dessen Tempelkomplex auf dem Martberg überregionale Bedeutung als Pilgerstätte besaß, als an den fernen Aesculapius in Rom.
Auch war man der Ansicht, daß Völker, mit denen man sich im Krieg befand, unter dem Schutz ihrer eigenen – möglicherweise sehr mächtigen – Götter standen. Deshalb war es gängige Praxis, diese fremden Götter vor einer wichtigen Schlacht anzurufen und sie zum Wechseln der Seiten zu bewegen. Dabei wurde ihnen als Gegenleistung für einen Sieg in Aussicht gestellt, daß man ihnen Tempel errichten und sie zukünftig im Rahmen der römischen Religion verehren würde. Dieses Ritual wurde „Evocatio“ genannt. Da die Römer auf ihren Feldzügen sehr erfolgreich waren, fanden auf diese Weise viele Götter aus den unterschiedlichsten Winkeln des Imperiums Einzug in die römische Götterwelt, denn natürlich wurde der Vertrag nach gewonnener Schlacht eingelöst.
Eine der berühmtesten dieser Evokationen ereignete sich im Jahr 392 v. Chr. in der Schlacht gegen die Veiianer. Camillus rief die Schutzgöttin der etruskischen Stadt Veii an und versprach ihr einen Tempel auf dem Aventin in Rom, um sich dort niederzulassen. Nach gewonnener Schlacht wurde der Tempel mitsamt einer Statue der Göttin errichtet. Diese Göttin wurde zu Juno Regina, die Königin der Götter Roms.

Jupiter Ammon, Gleichsetzung Jupiters mit dem ägyptischen Schöpfergott (Rheinisches Landesmuseum Bonn)
Der Begriff „Interpretatio Romana“ wurde vom römischen Schriftsteller Tacitus geprägt, der ihn in seiner „Germania“ zur Gleichsetzung des Zwillingspaars Castor und Pollux mit den germanischen Alci verwendete (Germania, 43: „Bei den Nahanarvalen zeigt man einen Hain uralter Gottverehrung. Ihr steht ein Priester vor in geschmückter Weibertracht, doch nennt man als die Götter, römisch aufgefaßt, Castor und Pollux: dies das Wesen der Gottheit, ihr Name Alcen. Keine Bilder, keine Spur fremden Dienstes; doch als Brüder, als Jünglinge gedacht verehrt man sie“). Diese Stelle ist der einzige literarische Nachweis des Begriffs „Interpretatio Romana“, die Praxis der Gleichsetzung fremder Götter mit den eigenen findet sich jedoch in zahlreichen Quellen, wie zum Beispiel bei Caesar in De Bello Gallico, wo er Merkur, Apollo, Mars, Jupiter und Minerva als die fünf Hauptgottheiten der Gallier bezeichnet (De Bello Gallico, 6,17).
Plinius der Ältere erklärte in seiner „Naturgeschichte“ die Gleichsetzung einheimischer Götter mit fremden Göttern mit der Vorstellung, daß Völker bestimmte Götter unter verschiedenen Namen kennen. Er prägte dafür den Ausdruck „nomina alia aliis gentibus“ („verschiedene Namen bei verschiedenen Völkern“, Naturalis historia, 2.5.15).
Ebenso spielte die Gleichsetzung eines einheimischen Gottes mit einem römischen Gott auch für die unterworfenen Völker eine wichtige Rolle bei der Eingliederung in das Römische Reich und für den Prozess der Romanisierung. Die Tatsache, daß ihre Götter nicht verboten, verleugnet oder unterdrückt wurden, sondern ihre Verehrung weiterhin erlaubt war – ja, sogar von den neuen Herren übernommen und gefördert wurde,- war ein wichtiger Bestandteil der Romanisierung und der Befriedung einer Provinz. So lange die Praktiken nicht gegen römisches Recht verstießen (z.B. Menschenopfer), genossen die Bewohner der neuen Provinzen völlige Religionsfreiheit. Oft erlebten sie, daß ihre Kultstätten, an denen sie die Götter verehrten, von den Römern zur Verehrung eben dieser Gottheiten weiter genutzt wurden, wenn auch in römischer Form, indem man dort die typischen gallo-römischen Umgangstempel errichtete, die es nur in den Provinzen nördlich der Alpen gab, und den Göttern aufwendige und imposante Gebäudekomplexe gewidmet wurden.
Dadurch, daß die Römer ihre eigenen Götter problemlos mit den einheimischen Göttern identifizieren konnten, gab es keine kulturelle Barriere, wie es sie bei der Übernahme eines Landes durch ein Volk mit einer völlig fremden, inkompatiblen Religion gegeben hätte, die die dort verwurzelte Religion verboten oder unterdrückt hätte.
Dies führte wiederum im Gegenzug zu eigenen Identifikationsbestrebungen wie der Interpretatio Gallica, in der Gallier römische Götter annahmen und in ihren Pantheon integrierten. Die einheimische Bevölkerung war dadurch auch schneller bereit, die römischen Darstellungen und Namen der Götter anzunehmen (vgl. hierzu: „Cernunnos: Origin and Transformation of a Celtic Divinity“ von Phyllis Fray Bober, veröffentlicht im American Journal of Archaeology, Vol. 55, No. 1 (Jan., 1951), S. 13-51: „… indigenous population’s readiness to accept for their religious personalities, often aniconic, the artistic types and names of those Roman divinities whose natures may include one or more parallel functions – interpretatio gallica.“)
So gewährleistete die Interpretatio Romana den Religionsfrieden („Pax Deorum“) im riesigen Vielvölkerreich des Imperium Romanum.
Wie erfolgte die Gleichsetzung eines fremden Gottes mit einem römischen Gott?
Ein einheimischer Gott, sei er keltisch, aus dem Nahen Osten oder Afrika, wurde nicht in der ursprünglichen Form in den römischen Cultus aufgenommen, in der ihn die „Barbaren“ verehrten.
Wie auch die Bevölkerung in den eroberten Gebieten, so wurde sozusagen auch der Gott romanisiert. Das geschah in erster Linie initialisiert durch die Frage, mit welchem bekannten römischen Gott er identifiziert werden konnte, um ihn in eine römische Form zu übertragen und ihm ein kultiviertes Gesicht zu verleihen. Darstellungen, Namen, Attribute wurden an den römischen Geschmack angepaßt (Römer mißtrauten zum Beispiel Göttern in Tierform).
Hierbei wurden oft nur wichtige Einzelaspekte oder Eigenarten betrachtet, die eine besondere Rolle spielten und ins Auge fielen, während weitere Zuständigkeiten und Eigenschaften eines fremden Gottes zum Teil offensichtlich uninteressant waren. Da die römische Göttervorstellung sehr flexibel war, war es sogar möglich, teils widersprüchliche Eigenschaften oder Zuständigkeiten in einer Gottheit zu vereinen. Auch gab es viele Überschneidungen, d.h. mehrere Götter konnten für das gleiche Gebiet zuständig sein, was die Identifikation mit fremden Göttern wiederum erleichterte und letztlich die vielfältigen existierenden Zuordnungen erklärt.
Die meisten Zuordnungen römischer Götter zu fremden Göttern kennt man von Inschriften auf Weihesteinen, die oft einem römischen Gott mit einem einheimischen Theonym (Beinamen) gewidmet waren. Während einige Namenskombinationen sehr lokal sind und nur auf einem oder wenigen Weihesteinen vorkommen, sind andere in ganz Europa verbreitet.
Die weitaus größte Anzahl an Kombinationen findet sich bei römischen mit gallischen Göttern, so daß hier die Interpretatio Romana zu einer ganz eigenen gallo-römischen Religionsform geführt hat, die es bei keinem anderen nicht-römischen Volk in diesem Variantenreichtum gegeben hat.
Hierbei fällt insbesondere auf, daß man bei der Zuordnung zu römischen Göttern nicht sonderlich detailreich ans Werk ging. Es war nicht etwa so, daß man sich jeden einheimischen Gott genau anschaute und dann überlegte, zu welchem der zahllosen, oft hochdifferenzierten Götter aus der römischen Götterwelt dieser neue Gott nun am besten passen würde. Ganz im Gegenteil wurde die ganz überwiegende Mehrheit einheimischer Götter (vor allem der gallischen Götter) mit nur wenigen römischen Hauptgöttern gleichgesetzt, die immer wieder in den unterschiedlichsten Kombinationen auftauchen – zu nennen sind hier vor allem Merkur (anscheinend der beliebteste Gott in Gallien überhaupt), Apollo und Mars, zuweilen auch Herkules, der in Gallien ebenfalls hohe Popularität besaß.
Wer entschied, welcher fremde Gott welchem römischen Gott entsprach?
Besonders interessant ist die Tatsache, daß es (vor allem in der Provinz, fernab von Rom) keine „offizielle Götterzuordnungsstelle“ oder etwas derartiges gab – etwas, das in heutigen heidnisch motivierten Diskussionen oft nicht bekannt zu sein scheint resp. was man dort geradezu erwartet und voraussetzt.
Immer wieder begegnet man heute in Diskussionen der Vorstellung, daß die Zuordnung eines römischen Gottes zu einem fremden Gott aktenkundig, von einer kompetenten Stelle mit Brief und Siegel hochoffiziell beschlossen wurde und unerschütterlich feststand, ganz so, als führten die Römer (wie heutige okkultistische Kabbalisten) allgemeingültige Listen und offizielle Entsprechungstabellen darüber, wer mit wem gleichzusetzen war. Das war nicht der Fall.
Es gab tatsächlich keine offizielle Stelle, die entschied, welcher Gott einem anderen Gott zuzuordnen war. Ganz im Gegenteil wurden die Zuordnungen, vor allem im Rahmen der privaten Religionsausübung, auf vielfältige und oft recht pragmatische Weise getroffen.
Weihesteine wurden von allen Teilen der Bevölkerung gestiftet, von Sklaven und Freigelassenen, von zugezogenen Römern und Einheimischen, von Adligen und Bürgern, von Händlern, Handwerkern und Bauern – sie unterschieden sich allenfalls in Größe, Kosten und Aufmachung. Römische Religion bestand immer schon aus zwei getrennten Bereichen: dem privaten Kult (Sacra Privata) und dem öffentlichen Staatskult (Sacra Publica). So lange man als Einwohner des Imperiums den öffentlichen Staatskult akzeptierte und damit zeigte, man gehörte zur Gemeinschaft dazu, mischte sich der Staat nicht in die Praktiken des privaten Kultes ein.
Im privaten Kult oblag es jedem Einzelnen, welche Götter er in in diesen einbezog, welche Rituale oder Feste er beging oder wen er mit welchem Anliegen ansprach. Jeder wandte sich in der römischen Religion mit seinen privaten Anliegen direkt an den betreffenden Gott und machte mit diesem seinen privaten Vertrag aus („Wenn Du mir Heilung schenkst und mein Bein wieder verheilt, widme ich Dir danach als Dank einen Weihestein“ oder „wenn das Geschäft erfolgreich ist, stifte ich danach eine bestimmte Summe Deinem Tempel vor Ort“). Priester fungierten nicht als Vermittler oder „Zwischenmann“ zwischen einem Menschen und einem Gott; jeder konnte sich jederzeit direkt und ganz persönlich an die Götter wenden.
Das führte dazu, daß man – gerade in der Provinz – nicht unbedingt die „Großen 12“ verehrte. Viele der römischen Götter spielten vor allem in der Stadt Rom und allenfalls in Italien eine größere Rolle, während man nördlich der Alpen nicht einmal alle großen Feiertage beging (die oft nur in Rom selbst gefeiert wurden). Man empfand die großen römischen Götter, die vor allem im Staatskult eine wichtige Rolle spielten, oft als fern, während die lokalen Gottheiten, die von Einheimischen schon immer traditionell verehrt wurden, viel näher und „persönlicher“ wirkten und einfach präsenter waren. Wie im zuvor erwähnten Aesculapius / Lenus-Mars-Beispiel hatte man in der Provinz deshalb oft ein enges, persönliches Verhältnis zu lokalen Ausprägungen oder orientierte sich an Tempeln in der Nähe, zu denen man einfacher pilgern konnte als ins ferne Rom.

Die keltische Göttin Rosmerta hat keine römische Entsprechung und wurde mitsamt ihrem Namen übernommen, wie auch Epona (Historisches Museum der Pfalz, Speyer)
Gerade hier bei uns in Westdeutschland waren etwa die Matronentempel rund um Nettersheim, der Lenus-Mars-Tempel auf dem Martberg oder der Tempelkomplex bei Tawern überregional bedeutsame Pilgerstätten, die Rat- und Heilsuchende von Nah und Fern anzogen, Einheimische wie Legionäre oder Zugezogene. Viele der hier verehrten Götter, wie die drei Matronen, Apollo-Grannus, Lenus-Mars oder Mars-Intarabus, waren im fernen Rom unbekannt oder zumindest unbedeutend.
Einige jedoch schafften es sogar in Rom zu Beliebtheit, wie die keltische Rosmerta oder Epona, die jedoch beide keine Gleichsetzungen mit originär römischen Gottheiten erfuhren. Rosmerta wurde, aufgrund der Attributgleichheit, Merkur als Gefährtin zur Seite gestellt, da sie – weil sie eine Göttin war – nicht ‚theologisch‘ mit ihm kombiniert werden konnte und in der gallischen Vorstellung ebenfalls einen göttlichen Gefährten hatte. Zu Epona, der Schutzherrin der Pferde, gab es kein römisches Äquivalent, deshalb wurde sie vollständig, mitsamt ihres keltischen Namens, übernommen. Manche Götter und Göttinnen, wie die ägyptische Isis, behielten ihren Namen, verloren aber ihr exotisches Erscheinungsbild und wurden in einer der römischen Vorstellung gefälligen Weise dargestellt. Damit ging dann oft auch ein Funktionswandel einher, so daß manche Götter trotz des gleichen Namens nicht mehr viel mit ihren ursprünglichen Vorbildern gemein hatten.
Die Tatsache, daß gallische Götter oft einfach nur mit Mars, Merkur oder Apollo gleichgesetzt wurden, führte leider auch dazu, daß Wissen über die speziellen Funktionen und Attribute der ehemals keltischen Götter verloren ging. Es gibt keine schriftlichen gallischen Aufzeichnungen über ihre Götterwelt und Vorstellungen; alle schriftlichen Quellen stammen von Römern und sind deswegen durch die Interpretatio Romana gefärbt. Dadurch, daß die Identifikation so „generisch“ mit immer den gleichen 3-4 „großen“ Göttern erfolgte (deren Zuständigkeiten zudem sehr differenziert waren), ist heute oft unklar, welchem Teilaspekt dieser Götter der zugeordnete gallische Gott entsprach, so daß es schwierig ist, daraus die ursprünglichen Eigenschaften der nicht-römischen Götter zu rekonstruieren.
Oft kam es auch vor, daß man sich an die lokalen Götter wandte, ohne genau zu wissen, um wen es sich dabei handelte, ganz einfach, weil es in der Region üblich war, das zu tun und weil man gehört hatte, daß diese Gottheit mit dem fremden Namen auch anderen Leuten geholfen hatte. Dafür sahen römische Rituale eigene Floskeln vor, die man in diesem Fall verwendete, um niemanden zu verärgern oder zu beleidigen. Ein Beispiel dafür war die Formulierung „sive deus sive dea“ („seist Du Gott oder Göttin“), die verwendet wurde, wenn der Name oder die Erscheinungsform eines Gottes nicht genau bekannt war. Eine ebenfalls beliebte und oft verwendete Anrede war ein allgemein gehaltenes „Gott oder Göttin, die diesen Ort beschützt„. Für viele einheimische Lokal- und Ortsgötter gab es zuvor noch keine römische Gleichsetzung, so daß man eventuell, wenn man nun einen Weihestein errichten wollte, der erste war, der sich mit der Aufgabe konfrontiert sah.
Wollte man nun ein Gelübde erfüllen, indem man eine Weiheinschrift in Auftrag gab, so sind unterschiedliche Wege überliefert, die eine bestimmte Kombination von Namen zur Folge hatten. Oft erfolgte eine Zuordnung eher „freifliegend“, was dazu führte, daß manche Gleichsetzungen nur von einem einzigen Ort her bekannt und belegt sind und sich der Zusammenhang auch nicht erschließt. Andere Gleichsetzungen schienen wiederum weit verbreitet und allgemein akzeptiert zu sein, da sie an ganz verschiedenen Lokalitäten überall in Europa auftauchen. Manche Gleichsetzungen wiederum sind sehr lokal begrenzt, tauchen in diesem engen Bereich dafür aber sehr häufig auf.
Mancherorts wandte man sich (um eine „offizielle“ Deutung zu bekommen), mit seinem Anliegen an den örtlichen Magistraten oder Ortsvorsteher, der Land und Leute gut kannte. Von diesem erbat man sich Hilfe in der Fragestellung, wie man den einheimischen Gott auf römische Weise titulieren sollte. Wenn man Glück hatte, war man nicht der erste, der an den Lokalpolitiker herantrat. Wenn man Pech hatte, war der Mann kreativ und schlug etwas vor, das seiner eigenen Vorstellung entsprach.
Es stand auch jedem frei, eine beliebige Weiheinschrift selbst in Auftrag zu geben, indem man seine eigenen Gedanken oder Gleichsetzungen in Stein meißeln ließ. Da sich nicht jeder kompetent genug in dieser Frage fühlte, war es auch gängige Praxis, sich mit diesem Anliegen direkt an den Steinmetz vor Ort zu wenden! Steinmetze führten die Aufträge für zahlreiche Weihesteine aus, insbesondere in der Nähe von Tempeln und heiligen Orten, und so konnte man davon ausgehen, daß sie gängige Kombinationen von göttlichen Namen kannten oder das meißelten, was Kunden vor ihnen in Auftrag gegeben hatten, so daß man die Entscheidung aus diesen pragmatischen Gründen einfach ihnen überließ.
Das führte zu zahllosen Kombinationen von Namen und Schreibweisen derselben für ein und denselben Gott. So existieren für den mit Mars gleichgesetzten keltischen Gott Intarabus auch Weihesteine in der Schreibweise Entarabus oder Interabus. Er ist (bisher muss man natürlich immer sagen, weil wir uns hier auf archäologische Funde stützen, die jederzeit durch neue Funde und Erkenntnisse ergänzt werden könnten) auch nur aus einem eng begrenzten Raum zwischen Luxemburg, Belgien und Westdeutschland bekannt.
Es konnte auf diese Weise auch durchaus vorkommen, daß ein einheimischer Gott an verschiedenen Orten mit unterschiedlichen römischen Göttern gleichgesetzt wurde, einfach weil der jeweilige Schwerpunkt der zur Identifikation geführt hatte, ein anderer war.
Im privaten Kult gab es keine Vorschriften oder Regeln, nach denen man einen Gott mit einem anderen gleichzusetzen hatte – das war, wie die gesamte Sacra Privata – eine persönliche Entscheidung, die mal mehr, mal weniger passend war.
Aufnahme fremder Götter in den Staatskult
Anders sah die Integration fremder Götter in den Staatskult bzw. ihre öffentliche Anerkennung aus.
Wurde ein Gott durch Evocatio, Assimilation oder aus einem anderen Grund in die römische Religion übernommen, oder offenbarte sich ein „urrömischer“ Gott, der zuvor unbekannt gewesen war (aber möglicherweise schon immer in der Stadt existiert hatte), hieß das noch lange nicht, daß er auch sofort anerkannt, verehrt und ins offizielle Kultgeschehen einbezogen wurde. Da ein Gott, wie zuvor beschrieben, in der römischen Vorstellung nichts anderes war als ein Bürger höchsten Ranges und Standes, mußte er erst offiziell in die Gemeinschaft „adoptiert“ werden.
Innerhalb einer Familie oder Sippe geschah die Adoption eines Gottes als Hausgott, der im privaten Kult verehrt wurde, durch den Paterfamilias.
Im römischen Staat gab es öffentliche Einrichtungen, die die Integration eines Gottes und dessen Zuordnung akzeptieren mußten – oder ablehnen konnten. Die Aufnahme wurde durch Mehrheitsentscheid des Senats getroffen – oder eben abgelehnt (vgl. Tertullian, Apologeticus 5.1: „Unter euch Heiden hängt eines Gottes Göttlichkeit von der Entscheidung der Menschen ab. Sofern ein Gott nicht dem Menschen gefällig ist, soll er gar kein Gott sein“).
Es wurde erwartet, daß sich ein Gott – wenn er einmal in den Staatskult aufgenommen worden war – positiv und ruhig verhielt. Offizielle römische Rituale betonten die gutartige Natur eines Gottes und den Nutzen und guten Dienst, den ein Gott gegenüber dem römischen Volk ausübte. Deswegen legten öffentliche Rituale auch Wert auf die Feststellung, daß das Römische Reich von den Göttern und den Magistraten gemeinsam regiert wurde. Wie römische Staatsbeamte, hatten römische Götter zwar ein Mitspracherecht in wichtigen Entscheidungen, mußten sich aber – wie diese – auch an die römischen Sitten und Gepflogenheiten halten, das heißt, sie hatten kein Vorrecht in der Äußerung ihrer Meinung, sondern man erwartete, daß sie nur antworteten, wenn der Staat sich an sie wandte. Aber selbst dann erwartete man keine redseligen Kundgebungen göttlichen Willens, sondern allenfalls ein „Ja“ oder „Nein“ bezüglich der Frage, wie man sich in einer anstehenden Entscheidung zu verhalten habe. Ein Beispiel hierfür sind die öffentlichen Auspizien, die angewendet wurden, um die Meinung der Götter zu einer Frage einzuholen. Selbst wenn ein Gott, zum Beispiel Jupiter, seinen Unmut durch ein eindeutiges Zeichen wie einen Blitzschlag kundtat, oblag es immer noch den Magistraten dieses Zeichen zu akzeptieren oder zurückzuweisen.
Wenn man einem Gott einen Tempel errichtete, wurde er im Anschluss rituell eingeladen, sich darin niederzulassen. Genauso gut war es möglich, einen Gott aus seinem Heiligtum zu verbannen, wenn man den Raum für etwas anderes brauchte oder seine Statue umwidmen wollte. Auch dafür existierten fest vorgeschriebene Riten.
Anders verhielt es sich mit anderen – natürlichen – Orten, in denen eine Gottheit residierte, wie einem Fluß, einer Höhle oder einem Hain. Diese waren fest in der Hand des Gottes und es war allenfalls möglich, sie mit einem Ritual darum zu bitten, an dem Ort teilhaben zu dürfen (zum Beispiel, wenn man dort etwas bauen oder anpflanzen wollte) und versprach, dort im Gegenzug ein kleines Heiligtum zu errichten.
Götter, die vom römischen Staat letztlich akzeptiert waren, wurden offiziell nach Rom eingeladen und erhielten dort einen traditionellen Namen, einen Ort und einen dazugehörigen Kult.
Das hatte jedoch keinerlei Einfluß darauf, ob ein Händler in Bonn einen Weihestein für Mercurius Gebrinius errichten ließ oder ob ein Steinmetz im Brohltal einen Stein für Hercules Invictus, Hercules Barbatus oder Hercules Saxanus meißelte.
Also gibt es keine „Who’s Who“-Listen der römischen Götterwelt mit ihren fremdländischen Entsprechungen?
Doch, die gibt es durchaus. Niemand würde in Frage stellen, daß Venus mit der griechischen Aphrodite gleichgesetzt wurde, Vulcanus mit Hephaistos oder Ra mit Apollo.
Lokale Kombinationen wie Lenus-Mars oder Apollo-Grannus sind überregional bekannt und durch zahlreiche Weiheinschriften belegt.
Was wir jedoch mit diesem Artikel vermitteln möchten, ist, daß das Thema viel komplexer ist und sich nicht auf Fragen wie: „Welchem keltischen Gott entspricht Merkur?“ reduzieren lassen (Antwort: mindestens 20 verschiedene Entsprechungen sind bekannt). Erst einmal gibt es, insbesondere bei den keltisch-römischen Gleichsetzungen, keine „offizielle“ Absegnung der Götterpaare, sondern ihr Ursprung ist so verschieden, wie die Menschen, die ihre Weihesteine in Auftrag gaben. Wahrscheinlich waren nicht einmal alle diese Gleichsetzungen sinnvoll.

Als „Mater Magna“ wurde die kleinasiatische Göttin Kybele in diesem Heiligtum in Mogontiacum (Mainz) verehrt
Nichtsdestotrotz spielte das keine Rolle für die Dankbarkeit eines Geheilten, der einen Weihestein für einen lokalen Gott in Auftrag geben ließ und es dabei dem Steinmetz überließ, welchen Namen er in den Stein schlug. Genausowenig spielte es eine Rolle, wenn sich ein Ratsuchender an einen lokalen Gott wandte, der ihm von Einheimischen empfohlen wurde aber dessen genauen Namen oder Funktion er eigentlich gar nicht so genau kannte. Wichtiger war, daß ihm geholfen wurde und daß er seiner Dankbarkeit danach durch das Einhalten des Vertrages Ausdruck verlieh, also das tat, was er als Dank vorher festgelegt und angeboten hatte.
Foren-Diskussionen darüber, ob der moderne Marienkult sich nun eigentlich an Isis wendet, oder mit welchen römischen Göttern haitianische Voodoo-Götter gleichgesetzt werden können, sind deswegen müßig (ja, sowas gibt es tatsächlich!). Welcher Gott welchem exotischen Gott in der Interpretatio Romana entsprechen mag, kann nicht abschließend und mit „wissenschaftlicher Exaktheit“ beantwortet werden, basierend auf eindeutigen Zuordnungen bezüglich Attributen, Zuständigkeiten oder Erscheinungsform – denn schon die Römer gingen nicht mit wissenschaftlicher Exaktheit an die Frage.
Die Zuordnung erfolgte nicht dogmatisch und es kam durchaus vor, daß einem gallischen Gott an verschiedenen Orten unterschiedliche römische Götter zugeordnet wurden, wie man es aus Weiheinschriften weiß.
Aber auch schon damals erging man sich in philosophischen Überlegungen, wie der Frage, wem etwa Gottheiten aus monotheistischen Religionen – wie z.B. der Gott der Juden – zugeordnet werden könnten (Varro identifizierte ihn als Caelus oder Jupiter Optimus Maximus). Der anatolische, doppelköpfige Sturmgott Teshub wurde zum bei Soldaten hoch verehrten Jupiter Dolichenus. Römische Zeitgenossen, die jüdische Gebete an Yahwe Sabaoth hörten, deuteten diese als Anrufungen für den thrakischen Gott Sabazios.
Die Interpretatio Romana ist deswegen viel mehr als eine simple Gleichsetzung von Gott A mit Gott B, sondern ein sehr vielschichtiges, interessantes Thema, bei dem sich immer wieder spannende Zusammenhänge und Verknüpfungen zwischen verschiedenen Göttern und Kulturen ergeben.
Nachtrag:
Immer wieder bekommen wir die Frage gestellt: „Aber sind die synkretisierten Götter denn nun ein- und derselbe Gott?“ d.h. ist Apollo-Grannus gleich dem klassischen Apollo oder ist Mars gleich Ares gleich Lenus gleich Intarabus, nur unter anderen Namen? Oder handelt es sich um vollkommen eigenständige Persönlichkeiten, sprich: lokale Götter, die einander nur ähnlich sind? Oder sind es Attribut-Gottheiten, das heißt, personifizieren diese Götter Teilaspekte eines einzigen Gottes?
Da diese Frage nach der „Natur des Göttlichen“ den Rahmen dieses Artikels sprengen würde, möchten wir an dieser Stelle auf diesen Abschnitt in unserem Artikel „Kultpraxis: Götterfiguren im römischen Cultus“ verweisen, in dem diese Frage angesprochen sowie für die Kultpraxis eingeordnet wird.