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Cultus Deorum (Religio Romana)

In unserem Blog geht es um ein scheinbar exotisches Thema: Römischen Rekonstruktionismus, das heißt das Wiederbeleben Römischer Kultur, vor allem der vorchristlichen römischen Religion („Cultus Deorum Romanorum“ oder „Religio Romana„) und Philosophie (im Fall der von uns als Richtschnur erwählten Stoa spricht man im anglo-amerikanischen Raum, wo diese Philosophie ein grosses Revival erlebt, auch von „New Stoa“, wenn es um die Praxis dieser alten Lebensphilosophie geht) in der heutigen Zeit.

Wieso „scheinbar exotisch“?

Wer meint, eine über 2000 Jahre alte Glaubenswelt sei fremdartig und für den modernen Menschen nicht geeignet, der irrt. Wir dürfen nicht vergessen – auch der im Westen immer populärer werdende Buddhismus ist weit über 2000 Jahre alt und letztlich bei weitem exotischer. Und auch das Christentum hat seinen 2000. Geburtstag nun hinter sich.

Isis und Mater Magna-Heiligtum in Mainz

Isis und Mater Magna-Heiligtum in Mainz

Bis heute ist die vorchristliche, polytheistische römische Religion in unserem Alltag präsent und uns sehr vertraut, auch wenn wir uns dessen auf den ersten Blick gar nicht bewußt sind!

Und auch die Stoa – eine philosophische Schule, die eigentlich unglaublich modern und in der heutigen Zeit genauso aktuell ist wie vor 2000 Jahren – gibt heute genauso Antworten auf Fragen, wie sie es schon vor 2000 Jahren getan hat.

Aber alte Römische Götter und Göttinnen, Numen, Laren, die Selbsterkenntnisse und Meditationen philosophischer Kaiser wie Marcus Aurelius – das soll man als sinnvolle und in heutiger Zeit alltagstaugliche Lebensform nutzen können?

Oh ja!

Rekonstruktionismus? Was soll das sein?

Hier geht es nicht um die Welt der Phantasie, der Sandalenfilme oder um (oft romantisch-verklärtes) Neuheidentum im Trend der neo-germanischen oder Wicca-Bewegungen, die sich ebenfalls auf die Kulturen der hier ansässigen Vorfahren berufen.

Im Gegensatz zu den Vorgenannten haben wir bei der Religio Romana den unschlagbaren Vorteil, daß unsere römischen Ahnen, denen wir noch heute auf Schritt und Tritt begegnen (sei es im Römischen Recht, das nicht nur Grundlage des BGB ist, sondern auch die gemeinsame Basis der europäischen Rechtsordnungen bildet, im Verlauf unserer Bundesstraßen, in den Überresten von Tempeln, Kastellen und Zivilgebäuden überall in unserem Land, in Kunst und Architektur), einen unglaublich reichen Schatz an Aufzeichnungen hinterlassen haben.

Wenn wir römische Bilder, Wandgemälde oder Götterfiguren betrachten, sind uns diese intuitiv vertrauter und näher als die oft abstrakt und fremdartig wirkenden Figuren oder Zeichnungen der hier ansässigen „barbarischen“ Stämme, weil sie noch heute Teil  unserer moderen Kultur sind.

Jupitersäule, Landesmuseum Mainz

Jupitersäule, Landesmuseum Mainz

Während Kelten oder Südgermanen so gut wie keine (nicht-römischen) schriftlichen Quellen über ihre Religion, Kultur, ihre Geisteswelt, ihren Glauben, ihre Rituale oder Gesellschaft hinterließen (und deswegen ihre Anhänger zu Neuinterpretationen und quasi zum Auffüllen von Lücken zwingen, sei es mit eigenen Ideen und Vorstellungen, die nicht historisch belegbar sind, oder auch mit aus anderen Kulturen importierten Elementen), gibt es als Quelle für den Cultus Deorum viele historische Texte, die von den Römern selbst verfasst wurden, oder Bilder, Gebäude, Statuen, Kultgegenstände etc.., die uns in lebendiger Weise diese Religion nahebringen können. Die Details ihrer religiösen Glaubensvorstellungen und Praktiken sind uns zum Teil gut überliefert, bis hin zu vollständigen Ritualtexten und Anleitungen zu Opfer, Handhaltung, Bewegung und Bekleidung im Tempel – tatsächlich ist die heidnisch-römische Religion die am besten belegte vorchristliche Religion überhaupt.

Nicht nur die „berühmten“ Quellen, wie Caesar, Cato oder Cicero, erzählen uns dabei vom Leben vor 2000 Jahren. Nein, die verfügbaren Informationen gehen viel weiter, bis hin zu privaten Briefen einfacher Bürger, Graffitis an den Wänden, Grabsteinen, endlosen Inventarlisten von Händlern oder aus Militärlagern (Römer waren, genau wie wir heute, begeisterte Bürokraten und schrieben alles nieder, was irgendwie von Wichtigkeit sein konnte), bildhaften Darstellungen in Form von Wandbemalungen und Mosaiken, Statuen, sowie einer Vielzahl von Alltags- oder Kultgegenständen.

Der heidnische Rekonstruktionismus (im Internet auch oft als „Recon“ abgekürzt) ist bestrebt, alles – von Glauben bis Kultpraxis – mit authentischen Quellen zu belegen und zu begründen und bildet in seinem historischen Ansatz eine spezifische Richtung innerhalb dessen, was man gemeinhin als ‚Neopaganismus‘ bezeichnet. Im Gegensatz dazu steht der heidnische Revivalismus („Revivalism“), der sich zwar auch auf Götter der Antike beruft (seien es römische, griechische, ägyptische oder sonstige), diese aber losgelöst vom historischen Ansatz mit modernen Methoden und Ritualen oder sogar anderen Strömungen (wie Elementen aus dem Wicca oder der hermetischen Magie) vermischt. Hier findet man oft geradezu eine Abwehrhaltung gegen den Gebrauch historischer Quellen mit dem Vorwurf, diese würden die moderne Entwicklung und individuelle spirituelle Entfaltung einschränken. Ist man am römischen Recon interessiert, also an der möglichst authentischen Rekonstruktion einer sehr gut überlieferten antiken Religion und ihrer Übertragung in die heutige Zeit, muß man im Internet große Vorsicht walten lassen, um Seiten und Beiträge römischer Recons von denen römischer Revivalisten zu unterscheiden! Wir sind explizit Rekonstruktionisten und vertreten diesen Ansatz auch gegenüber den revivalistischen Gruppen, in denen häufig Vorurteile und Mißverständnisse gegenüber dem Recon-Ansatz zu finden sind.

Im Gegensatz zu Religionen wie dem germanischen Neuheidentum (Asatru), wo es keine ununterbrochene schriftliche Überlieferungslinie gibt, oder Quellen zwar vorhanden sind, aber oft nur in der Wiedergabe durch christliche Autoren, was immer die Frage mit sich bringt, inwieweit hier ‚heidnische‘ Vorstellungen authentisch tradiert sind, sind wir in der glücklichen Lage, detaillierte Informationen zu haben, die einen Großteil der Aspekte und Bereiche der römischen Kultur abdecken. In den Bereichen, die nicht überliefert sind, oder wo wir Zugeständnisse an die heutige moderne Zeit machen müssen (schließlich gibt es heute weder Sklaverei, noch ist es üblich, Stiere im Hof zu opfern), kennzeichnen wir diese „nachträglichen“ Anpassungen oder Kompromisse deutlich.

Zum Glück ist diese Art von Ergänzung selten notwendig, denn die Quellenlage ist so gut, daß es möglich ist, ohne Phantasie und Improvisation die Religion unserer Vorfahren zu praktizieren und ihre philosophische Geisteshaltung problemlos auf Zeitlosigkeit und Praktizierbarkeit in der heutigen Zeit zu prüfen. Ein Test, den sie – um das gleich vorwegzunehmen – ohne Probleme bestehen!

Die Götter sind doch ‚tot‘, die Römer sind zum Christentum konvertiert! Warum einen solchen Rückschritt machen, wo es heute doch noch die römisch-katholische Kirche als direkte, ununterbrochene Traditionslinie aus der Antike gibt?

Vorführung des Vor-Opfers bei einer römischen Hochzeit (Römerfest, Mayen 2013)

Vorführung des Vor-Opfers bei einer römischen Hochzeit (Römerfest, Mayen 2013)

Die römische Gesellschaft war traditionell in religiösen Fragen sehr tolerant. Die Religionen der Völker, die dem Römischen Reich angeschlossen wurden, wurden akzeptiert und in vielen Fällen integriert, was wiederum die „Romanisierung“ der unterworfenen Völker erleichterte („Interpretatio Romana„). Merkur, zum Beispiel, der unter anderem mit dem gallischen Teutates gleichgesetzt wurde, avancierte schnell zum beliebtesten Gott in Gallien, dessen weit verbreitete Verehrung zahllose Tempel und Aufzeichnungen bezeugen.

„Fremde“ Götter wie die keltische Epona, Mithras oder die ägyptische Isis waren zeitweise extrem populär, sogar in weit entfernten Provinzen wie Britannien oder Germanien, wie z.B. der große Isis und Mater Magna-Tempel in Mogontiacum (Mainz) heute noch eindrucksvoll zeigt.

Nur mit der Integration des Christentums gab es Probleme, weil die Christen sich einerseits oft abfällig gegenüber den Göttern äußerten, die sie zwar als existierend betrachteten, aber ihrem Wesen nach als Dämonen, als bösartige Wesen, einschätzten, welche die Menschen dazu verführt hätten, sie als göttliche Wesen zu verehren. Andererseits lehnten die Christen die Teilnahme am öffentlichen Kaiserkult ab, der quasi die gemeinsame Basis eines, sich als zusammengehörige Gemeinschaft verstehenden, Imperium Romanum war.

In der nach-republikanischen Zeit entwickelte sich auf der Grundlage der Genius-, Laren- und Numen Vorstellungen der römischen Religion (zu verstehen im Sinne einer gemeinschaftlichen Dimension von Lebenden und Ahnen, von Individuen und Familien, von Personen und Orten) der Imperiale Kult, basierend auf der Apotheose, der Vergöttlichung römischer Kaiser (zuweilen auch von Mitgliedern ihrer Familie). Wie jede Familie ihre Ahnen- und Schutzgeister hatte, die Laren und Penaten, so ging man davon aus, daß auch der Staat als Gemeinschaft aller, als Reichsfamilie sozusagen, solche beschützenden und stützenden Kräfte hatte.

Römische Kaiser konnten nach ihrem Tod, aufgrund ihrer Verdienste dazu auserkoren, zu einem divus, einem Vergöttlichten erklärt und damit in die Gemeinschaft der Götter erhoben werden. Sie erhielten eigene Tempel und eine für ihren Kult zuständige Priesterschaft, welche die öffentlichen Opfer in der Folgezeit durchführten. Teilnahme an diesen Opfern war gleichbedeutend mit einem Bekenntnis zum Römischen Reich, war öffentliches Zeichen, daß man sich zu dieser Gemeinschaft, ihrer Kultur und sozusagen dem Geist der sie am Leben hielt, zugehörig fühlte. Im Umkehrschluss war Nichtteilnahme daran gleichbedeutend mit Verrat am Imperium, da es neben der offensichtlichen Selbstausgrenzung aus der Gesellschaft, ihrer Werte und Symbole letztlich auch den Pax Deorum, den Frieden zwischen Menschen und Göttern, gefährdete, auf dem der römische Staat, dem Selbstverständnis seiner Bürger gemäß, basierte.

Auch war es verpflichtend, neben allen privaten Praktiken und Kulten (die dem Bürger vollkommen selbst überlassen wurden), zumindest auch die Kapitolinische Trias zu verehren, d.h. die höchsten Staatsgötter Jupiter, Juno und Minerva. Die Verehrung dieser hohen Götter durch alle Bürger sollte den Erhalt des Römischen Staates sicherstellen. Auch diese Verehrung wurde von Christen nicht praktiziert, was gleichbedeutend damit war, daß man sich nicht um den Erhalt des Staates scherte, der nur durch diesen Vertrag zwischen den Göttern und den Menschen in seiner Einheit bewahrt und beschützt wurde.

Vom Geheimkult wuchs das Christentum im Laufe der Jahrhunderte zu einer großen Bewegung heran und sprach auch viele römische Bürger an, genauso wie die einheimische Bevölkerung in den Provinzen, wie Germanen, oder Kelten, von denen viele freiwillig dem neuen, attraktiven und exotischen Kult beitraten. Genauso gab es aber im Römischen Reich immer Gegenströmungen, die eine Rückkehr zu den Alten Göttern forderten und das Christentum eine Zeitlang zurückdrängten. Immer wieder versuchten Kaiser wie Diokletian oder Julianus das Interesse an den „alten“ Göttern wachzuhalten und die Kulte wiederaufleben zu lassen. Viele der späteren Kaiser gingen auf „Nummer Sicher“, indem sie sowohl dem neuen Gott huldigten, als auch die Opfer an die alten Götter beibehielten.

Als Kaiser Konstantin I im Jahr 325 die christlichen Bischöfe zu einem Konzil zusammenrief, ging es ihm weniger darum, das Christentum zur Staatsreligion zu machen, als vielmehr darum, den Religionsfrieden im riesigen Reich wiederherzustellen.

Mit der Herrschaft des oströmischen Kaisers Theodosius I. schlug das Verhältnis im Jahr 392 in das Gegenteil um: statt Christen zu verfolgen, verbot er die „heidnischen Kulte“, die im Reich noch immer praktiziert wurden, und stellte die Ausübung unter Strafe. Er verbot die mit dem alten Kult verbundenen Opfer für Genien, Laren und Penaten sowie das Schmücken des Herdes. Tempel wurden zu christlichen Stätten umfunktioniert und heidnische Feiertage zu christlichen Festen umdeklariert (wie der 25. Dezember, der Festtag des Sol Invictus, zu Weihnachten).

Ein Hausaltar (Lararium, Römerfest, Villa Borg 2013)

Ein Hausaltar (Lararium, Römerfest, Villa Borg 2013)

Zwar wurden altrömische Kulte noch lange in den eigenen vier Wänden praktiziert und geduldet. Im Jahr 494 setzte Papst Gelasius I. fest, daß das letzte noch tolerierte öffentliche altrömische Fest, die Lupercalien (bei denen seit Augustus die Staatsgründung Roms gefeiert wurden), verboten wurde.

Das bedeutet nicht, daß über Nacht alle Bürger des Römischen Reichs zum Christentum konvertierten. Der Cultus wurde weiterhin praktiziert, jedoch waren das 5. und 6. Jahrhundert generell eine unruhige Zeit, geprägt durch die Völkerwanderung, Hunneneinfälle im Osten und schließlich das Ende des (west-)Römischen Reiches. Mit dem Untergang Roms und der Übernahme weiter Teile Europas durch christliche germanische Stämme endete die Antike und damit auch die weströmische Zivilisation (das oströmische Reich sollte noch bis zum Fall Konstantinopels im 15. Jahrhundert fortbestehen).

Auch nach dem Fall des Römischen Reiches und dem Erlaß der Verbote der alten Kulte wurde die Religio Romana noch immer praktiziert und die Larenverehrung, die ein Kernbereich dieses Kultes ist, wurde noch bis in das 7. Jahrhundert nachgewiesen. Im Oströmischen Reich wurden die letzten Riten des alten Kultus erst zum Ende des 7. Jahrhunderts verboten und man kann auch hier davon ausgehen, daß sie trotzdem weiter praktiziert wurden und nicht über Nacht alles zum Stillstand kam.

Nichtsdestotrotz bedeutet die heutige christliche Vorherrschaft nicht, daß die eine Religion nun „wahr“ und die andere „unwahr“ geworden ist, nur weil sich das Christentum durchgesetzt hat. Es bedeutet nicht, daß Jesus die alten Götter wie Jupiter, Apollo, Mars, Minerva oder Diana vernichtet und in die Hölle verbannt hat, wie mancher Christ sich das vielleicht damals oder auch heute noch, gedacht hat. Ganz im Gegenteil. Das Erbe unserer Ahnen lebt noch heute in uns und überall um uns herum fort.

Unsere Vorfahren haben hier, überall in Europa, zu Merkur gebetet, wenn sie geschäftlichen Erfolg brauchten oder auf Reisen gingen. Apollo schützte sie vor Krankheiten und inspirierte sie im künstlerischen Schaffen. Lehrer gewannen Einsicht durch Zwiesprache mit Minerva. Soldaten beteten vor der Schlacht zu Mars und Mithras, was ihnen Mut und Zuversicht gab. Frauen mit Kinderwunsch baten Ceres um Fruchtbarkeit, Vesta hütete das Feuer in der Wohnung und die eigenen verstorbenen Vorfahren wurden zu Laren, den Schutzgeistern der Familien, die man bei allen Familienfeiern wie selbstverständlich einbezog.

Noch heute sind uns die römischen Götter vertraut und begegnen uns auf Schritt und Tritt im Alltag, wir kennen ihre Legenden und Geschichten (oft sind heute mythologische Geschichten aus den alten Religionen bekannter und präsenter bei den Menschen als biblische Geschichten) und können spontan etwas mit ihnen assoziieren und ihre Symbolik verstehen. Mars trägt das Schwert, Apollo die Kithara, Merkur das Geldsäckelchen und den Caduceus.

Der „Bacchus“ beim Winzerfest in Ahrweiler (2013)

Ärzte verwenden noch heute den Stab des Gottes Aesculap als ihr Symbol. Selbst exotischere Gottheiten wie der Weingott Bacchus ist im Volksbrauch noch lebendig, wenn er etwa jedes Jahr zum Weinfest auf einem Faß durch die Dörfer an der Ahr reitet und die Menschen mit diesem Gott, der ihnen den Wein geschenkt hat, immer noch wie selbstverständlich feiern und lachen.

Wir rufen Fortuna, wenn wir Glück brauchen, Justitia wacht über unsere Gerichte.

An vielen Orten sind die Ruinen der Tempel heute noch zu besuchen und es sind immer harmonische und eindrucksvolle Orte, sei es an der Mosel (Lenus Mars-Tempel auf dem Martberg), in der Eifel (die Matronenheiligtümer von Nettersheim und Pesch), der Isis-Mater Magna-Tempel sowie die Mithras-Altäre in Mainz oder die Fossa Sanguinis der Kybele bei Neuss. Man merkt diesen Orten ihre Präsenz immer noch deutlich an, man fühlt, man ahnt, daß sich diese göttliche Präsenz nicht verflüchtigt hat, ganz unabhängig davon, welche Religion statistisch gesehen in diesem Land die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich vereint.

Die Götter sind beileibe nicht tot und es ist das Bestreben der Praktizierenden des Cultus Deorum Romanorum, ihnen in ihrem Leben wieder den Platz einzuräumen, den er bei unseren Vorfahren hatte. Es sind die Götter einer poetischen Religion, einer Religion gewidmet der Freundschaft zwischen Göttern und Menschen, eine Religion, die uns die Götter in ihrer Menschlichkeit näherbringt, wie auch uns das Potential zugesteht, uns über unsere Nur-Menschlichkeit zu erheben.

Dank der hervorragenden schriftlichen Quellenlage, die auch religiöse und praktische Detailfragen beantwortet, und der sehr guten Fundlage, was archäologische Fundstücke und Ausgrabungsorte angeht, ist es den Cultores heute möglich, den Cultus so authentisch wie möglich in der heutigen Zeit zu praktizieren. Nicht zuletzt ist heute sogar tatsächlich auch das Christentum selbst in Form des Ritus Christianus eine wertvolle Quelle für die Rekonstruktion des römischen Heidentums.

Was macht den Cultus Deorum aus?

Die Religion selbst ist zeitlos und fügt sich in ihrer Flexibilität und Alltagstauglichkeit nahtlos in die heutige moderne Zeit ein.

Die Römer selbst waren sehr modern eingestellt und scheuten sich nicht, gute Erfindungen und Innovationen der eroberten Völker und selbst ihrer Feinde zu übernehmen und zu verbessern („die Japaner ihrer Zeit“). In der Übernahme fremder Götter und kultureller Aspekte paßten sie sich flexibel an die jeweiligen Gegebenheiten in den vielen Provinzen an, was ein Schlüssel zu ihrem Erfolg war.

Flussgott, möglicherweise Rhenus (der Rhein). Fundort: Köln (Römisch-Germanisches Museum Köln)

Flussgott, möglicherweise Rhenus (der Rhein). Fundort: Köln (Römisch-Germanisches Museum Köln)

Ganz sicher würden sie auch heute nicht erstarrt und versteinert wie vor 2000 Jahren leben, sondern die moderne Zeit mit all ihren Errungenschaften zu nutzen wissen. Deshalb ist der Cultus Deorum Romanorum auch in der heutigen Zeit ein praxisbetontes Glaubenssystem, das aufgrund der guten Quellenlage jedoch ohne Verbiegungen und Phantasie-Lückenfüllungen an die moderne Zeit angepaßt werden muß – die Götter sind zeitlos und fühlen sich in der Moderne ebenso wohl wie vor 2000 Jahren… und passen ebenso gut hierher!

Die Religio Romana ist eine Religion der Orthopraxie, d.h. der rechten und korrekten praktischen Handlungsweise. Hierbei ist die korrekte Ausführung und die religiöse Praxis von zentraler Bedeutung: das Einhalten religiöser und ritueller Regeln, das Abhalten bestimmter Rituale – all das sichert den „Pax Deorum“, den Frieden mit den Göttern und ihr Wohlwollen. Nicht umsonst wurde (in erster Linie im Staatskult) ein Ritual abgebrochen und von vorne begonnen, wenn der Priester sich versprochen hatte oder der Tibicen, der Sakralmusiker, sich verspielte. Die äußere Form ist von großer Wichtigkeit. Der Erhalt und die Deutung von Zeichen, die als der Weg gelten, auf dem die Götter sich den Menschen mitteilen, spielen eine wichtige Rolle, ebenso das Grundprinzip des Do ut Des, das wir weiter unten erläutern.

Wichtig an dieser Stelle ist nur: Orthopraxie, die korrekte Durchführung der Handlungen, ist weitaus wichtiger als die Orthodoxie, der rechte Glaube, wie er z.B. in den monotheistischen Religionen von zentraler Bedeutung ist. Deswegen ist es für den römischen Rekonstruktionisten von großer Wichtigkeit, die Rituale, Handlungen, Praktiken und alles, was mit der römischen Religion zu tun hat, möglichst gut anhand von Quellen zu erforschen (von denen wir glücklicherweise sehr viele haben) und sich so eng wie möglich an den Überlieferungen zu orientieren. Lücken in der Überlieferung müssen natürlich aufgefüllt werden, aber das geschieht nicht mit Phantasie und womöglich durch die Vermischung mit ganz anderen, (neu-)heidnischen, magischen oder anderen eklektischen Vorstellungen, sondern auf möglichst plausible und in sich schlüssige Weise, die im Kontext und Rahmen dessen bleibt, was wir bereits wissen und rekonstruieren konnten.

Was den Cultus von anderen Religionen wie etwa Judentum, Christentum, Islam unterscheidet, ist – neben der Tatsache, daß es sich um eine polytheistische Religion handelt -, die Grundüberzeugung, daß die Götter und Göttinnen dem Menschen grundsätzlich wohlwollend und freundlich gesonnen sind. Die Vorstellung eines strafenden, rächenden Gottes, der bestimmte moralische Richtlinien festsetzt, denen es zu folgen gilt oder ein ängstliches Verhalten der Menschen einem Gott gegenüber, dem man zu gefallen sucht, wurde von den Römern als „Superstitio“ (Aberglaube) abgelehnt. Das ist eine wohltuende und sehr entspannte Beziehung, die man mit seinen Göttern hat!

Wichtig ist es, den „Pax Deorum“ zu wahren, einen Zustand des Friedens zwischen Menschen und Göttern, der durch ein wohlwollendes Verhältnis und Respekt dem jeweils anderen gegenüber, sowie durch Einhaltung eines „Vertrages“ im Sinne des ‚do ut des‘ („ich gebe Dir, Du gibst mir“) durch beide Seiten, gekennzeichnet ist.

Götter sind nicht allmächtig oder allwissend, sie sind „Bürger“ des Staates oder Teil der Gemeinschaft, wie auch der Mensch, nur sind sie ihm in ihren Fähigkeiten überlegen, so daß sie einen höheren Status innerhalb der Gesellschaft innehaben. Nichtsdestotrotz waren sie in der römischen Antike genauso Teil der Gesellschaft wie der Mensch, nicht nur mit Rechten, sondern durchaus auch Pflichten.

Generell ist die Beziehung zwischen Menschen und Göttern eher wie ein Geschäft oder besser als Vertrag zu sehen, worin ebenfalls ein Unterschied zum Christentum besteht, wo man Gott in einer persönlicheren Weise verbunden ist und oft ohne Gegenleistung um etwas bittet (dies hier allerdings nur so scharf gezeichnet, um die Schwerpunkte deutlicher zu machen, denn es  gibt z.B. im katholischen Christentum durchaus die klar römisch orientierte Denkweise, wenn man etwa Messen durch den Priester lesen lässt, um etwas zu bewirken, an Prozessionen oder Pilgerfahrten teilnimmt, Kerzen oder Blumen „opfert“ etc.. Ebenso werden von Römern Stoßgebete an ihre Götter gerichtet worden sein, die ohne das sonst geregelte Prozedere auskamen). Im Cultus Deorum wird ein Wunsch oder eine Bitte zwar ebenfalls an den dafür zuständigen Gott vorgetragen, jedoch wird eine „Bezahlung“ (meist in Form eines zweiten Opfers, oder auch einem konkreten Versprechen, etwas zu leisten) in Aussicht gestellt, wenn die Bitte gewährt wird, während das erste Opfer als eine Art „Aufmerksamkeitserreger“ an die Götter gedacht ist.

Augustus, capite velato

Augustus, capite velato

Das Opfer muß nicht gleich ein Ochse, das Versprechen nicht ein teurer Gedenkstein sein, den man zu stiften gelobt; es kann auch eine Räucherung, Wein, Milch, Mola Salsa (eine Mischung aus Mehl und Salz), eine Pflanze sein… unterschiedliche Götter bevorzugen unterschiedliche Opfergaben (für Details zu den einzelnen Göttern siehe unser Lexikon). Es wird auch nicht erwartet, daß die Opfergaben übertrieben kostspielig sind und gar die eigenen Mittel übersteigen („…sondern aus Mehl, Wein und den am wenigsten kostspieligen Opfergaben bestehen„, Plutarch, Numa 8.8). Wird eine Bitte nicht gewährt, muß auch das versprochene Opfer nicht erbracht werden. Wird der Wunsch jedoch gewährt, ist die Erfüllung des Vertrages Pflicht für den Cultor, denn der Vertrag ist für beide Seiten bindend.

Hierbei spielen auch Zeichen (die für die Römer extrem wichtig waren) eine große Rolle, die im Hinblick auf die Gewährung oder Abweisung eines Wunsches gedeutet werden. Zorn oder Strafe der Götter, von denen in Geschichten berichtet wird, sind in der Regel darin begründet, daß ein Versprechen nicht gehalten und ein Vertrag nicht erfüllt wurde und geschieht nicht willkürlich oder aus göttlicher Allmacht heraus, wie in den Mythologien anderer Kulturkreise. Hierbei sind insbesondere Zeichen in der Natur (vor allem der Tierwelt und dort vor allem Vögel) von entscheidender Wichtigkeit, um darüber zu urteilen, ob ein Ritual erfolgreich war und erhört wurde oder wie die Chancen auf etwas stehen, das man plant, denn es wird davon ausgegangen, daß Götter sich dem Menschen vor allem durch Zeichen mitteilen. Hierbei sind bestimmten Göttern auch spezifische Tiere zugeordnet.

Die Kunst, diese Zeichen zu lesen (Auspizien), ist eine umfangreiche Wissenschaft für sich, mit der man sich ausgiebig beschäftigen kann. Während die grundsätzlichen Zeichen jedem Römer vertraut waren (so wie wir heute noch im Volksmund „schwarze Katze von links bedeutet Unheil“ kennen ;-)), so war es schon damals Aufgabe der speziell ausgebildeten Auguren, die spezifischen Zeichen für Angelegenheiten des Staatskultes und für besondere Anliegen zu deuten.

Interaktion mit den Göttern findet deswegen in der Regel im „Römischen Ritus“ (Ritus Romanus) statt, d.h. mit verhülltem Haupt („capite velato„), das mit einem Tuch oder einem Teil der Toga bedeckt ist. Das hat in erster Linie eine praktische Funktion, da es dem Schutz vor störenden Einflüssen dient und auch davor bewahrt, negative oder ungünstige Zeichen aus den Augenwinkeln wahrzunehmen, was einen verunsichern und im Ritual behindern könnte. Eine Anspielung im Neuen Testament dürfte sich als Abgrenzung der neuen Religion auf eben diesen genuin römischen Brauch beziehen: „Wenn ein Mann betet oder prophetisch redet und dabei sein Haupt bedeckt hat, entehrt er sein Haupt.“ — Korinther 11,5

Durchführung einer Räucherung mit capite velato

Durchführung einer Räucherung mit capite velato

Das Gegenteil davon ist der „Griechische Ritus“ (Ritus Graecus), der barhäuptig („capite apertōfür einige wenige, besonders „griechische“ Götter verwendet wird, zum Beispiel für Apollo, Aesculapius, oder Adonis. Hier werden die Kulthandlungen nicht mit verhülltem Haupt durchgeführt, sondern mit einem Lorbeerkranz geschmückt (wie es auch schon bei den Etruskern üblich war). Obwohl die Bezeichnung anderes vermuten läßt, sind beide Riten aber rein römische Bräuche, denn der Ritus Graecus ist nicht etwa authentisch originär-griechisch („novus aut externus ritus„, Ritus eines fremden Kultes), sondern so, wie Römer sich griechische Riten vorstellten und sie als „griechischen Flair“ in ihre Kultur übertrugen.

Es wird davon ausgegangen, daß die Götter an der Beziehung zu den Menschen ebenso interessiert sind, wie die Menschen an der zu den Göttern. Es ist also nicht nötig, daß sie nur deshalb etwas tun, „weil sie Götter sind und mächtiger als der Mensch (sind)“ – nicht nur der Mensch profitiert davon, wenn er göttliche Hilfe in einer Angelegenheit erbittet und gewährt bekommt, sondern auch der Gott profitiert davon, wenn der Mensch ihm opfert und seiner gedenkt. Deswegen gab es neben dem privaten Kult im Haushalt auch den öffentlichen Staatskult, der sicherstellen sollte, daß die Götter ihre schützende Hand über Rom hielten, indem regelmäßig aufwendige und seit Jahrhunderten formal fest vorgeschriebene Rituale und Opfer öffentlich durchgeführt wurden. Die Götter hatten deswegen einen Rechtsanspruch darauf, verehrt zu werden.

So wundert es nicht, daß von Anhängern des alten Kultes der Fall des Römischen Reichs nach dem Einmarsch der (christlichen) Germanen als Strafe für den Abfall von den alten Göttern (durch die Erklärung des Christentums zum neuen Staatskult) interpretiert wurde, da die alten Opfer nicht mehr gebracht wurden, die der Teil des Schutzvertrages waren, den der Römische Staat zu erfüllen hatte.

Sind römische Götter nicht einfach griechische Götter mit anderen Namen?

 

Selbstgebautes Lararium im klassischen römischen Stil mit Sacrarium (links) und Caesarium (rechts)

Selbstgebautes Lararium im klassischen römischen Stil mit Sacrarium (links) und Caesareum (rechts)

Wichtig ist auch zu erwähnen, daß die Römische Religion nicht gleichzusetzen ist mit der Griechischen Religion („Hellenismus„, oder auch „Hellenismos“ der heute ebenfalls als heidnisch-rekonstruktionistische Bewegung praktiziert wird) und es sich bei den römischen Göttern nicht um „griechische Götter mit anderen Namen“ handelt. Ganz im Gegenteil unterscheidet sich die griechische Religion fundamental von der Römischen und die Götter sind nicht beliebig austauschbar wie das etwa in synkretistischen und eklektischen neuheidnischen Glaubensströmungen (z.B. Wicca) der Fall ist.

Neben dem Pantheon und der Kultpraxis liegt ein Unterschied darin begründet, daß dem Römer – im Gegensatz zum Griechen – die „Hintergrundgeschichte“ seiner Götter und Göttinnen (also „wer mit wem, gegen wen und warum“) herzlich egal war. Zwar haben viele Götter (insbesondere die aus Griechenland importierten 12 Dei Consentes, die „großen 12“) eine lose Hintergrundgeschichte oder Mythologie (wie die Tatsache, daß Jupiter der Ehemann von Juno ist, oder Vulcanus einen verkrüppelten Fuß hat, weil er von seiner Mutter Juno vom Olymp geworfen wurde).

Aber der Römer ist in seiner Religion eher an der Praxis, am „Handeln“ orientiert, als sich – wie die Griechen – ausgiebig mit dem „Sein“ der Götter, d.h. den Hintergründen, Familienverhältnissen, Intrigen, Geschwisterrivalitäten, Affären und Verfeindungen der Götter untereinander zu befassen. Dagegen sind die Persönlichkeiten, das Wesen der Götter sowie ihre Verhältnisse zueinander für den griechischen Kultisten deutlich interessanter und neben der Praxis ist für sie dieser „theoretische“ Hintergrund und die Mythologie von großer Wichtigkeit.

Römer adaptierten viele Kulte anderer Kulturen im Zuge der Interpretatio Romana, nicht nur griechische

Römer adaptierten viele Kulte anderer Kulturen im Zuge der Interpretatio Romana, nicht nur griechische

Römische Göttergeschichten beschäftigen sich vor allem mit den Taten der Götter und Beschreibungen ihrer Handlungen und Offenbarungen. Ihr Wirken, ihre Handlungsweise sind für den Römer viel wichtiger als ihre Familiengeschichte, ihr Stammbaum und ihre sexuellen Aktivitäten. Damit ist einer der Hauptunterschiede zwischen römischer und griechischer Betrachtungsweise der Götter die Gegenüberstellung von „Handeln“ und „Sein„.

Tatsächlich wurden viele Götter bewußt im Rahmen des Staatskultes von ihren Herkunftsgeschichten und ihrem Stammbaum ‚bereinigt‘, was wiederum die pragmatische Einstellung der Römer zeigt: Da die römische Religion fundamentaler Baustein des Staates war und Staatskult, Religion und Politik untrennbar miteinander verbunden waren und sich gegenseitig beeinflußt haben, war die Ausgestaltung (oder, genauer, die „Nicht-Ausgestaltung“) der Hintergrundgeschichten der Götter auch von politischer Bedeutung. Der Gott Jupiter, zum Beispiel, von dem es unzählige Darstellungsweisen, Namen, Zuordnungen und Aspekte gibt, wurde in Rom fast vollständig von seiner Herkunftsgeschichte und seinem Stammbaum ‚abgetrennt‘, um zu verhindern, daß sich römische adlige Familien in ihrer Abstammung auf ihn als ihren Ahnen berufen konnten.

Viele der ur-römischen (oder aus anderen Kulturen, wie der der Etrusker, oder Kelten, übernommenen Götter) haben überhaupt keine elaborierte Hintergrundgeschichte oder sind sogar zum Teil gestalt- und geschlechtslos. Die Römer übernahmen von den Griechen zwar in späteren Jahren auch die Vorliebe für eine anthropomorphe und möglichst perfekte Darstellung eines Gottes, dieses ist jedoch keine originär römische Tradition oder Vorstellung, was man an den altrömischen Göttern erkennt, die nicht-griechischen Ursprungs sind.

Die aus Griechenland importierten Götter spielten zwar eine zentrale Rolle, auch, da die griechische Kultur, Literatur, Philosophie und Architektur generell sehr beliebt und geschätzt war und starken Einfluß auf die römische Kultur hatte. Zu sagen, daß die römischen Götter nur „umbenannte“ griechische Götter sind, greift aber zu kurz. Tatsächlich werden im römischen Cultus die Entsprechungspaare wie Jupiter und Zeus, Venus und Aphrodite, Minerva und Athene, nicht als Synonyme verwendet, sondern eher als spezifische Manifestation einer dahinterstehenden göttlichen Präsenz angesehen.

Viele der ursprünglichen, ur-römischen Gottheiten (wie  Janus) wurden jahrhundertelang anikonisch (d.h. ohne Bilder) und gestaltlos verehrt. Von vielen machte man sich nur schemenhafte, abstrakte oder nicht-menschliche Vorstellungen, wie von der Göttin Vesta, die man in Form des Herdfeuers gegenwärtig sah und verehrte.

Lararium mit Caesarium für die Kaiser Augustus und Claudius

Lararium mit Caesareum für Divus Augustus Divi filius (Kaiser Augustus) und Divus Claudius (Kaiser Claudius)

Altrömische Götter haben ihren Ursprung zum Teil in animistischen, nicht personifizierten Naturerscheinungen und eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Religio Romana spielt das Numen, der gestaltlose Ausdruck göttlichen Willens. Das Numen kann sich in allem möglichen manifestieren, in einer Naturerscheinung, einem Fluß, Stein, Quelle oder Baum, wie man es von animistischen Religionen kennt. Erst nach und nach setzte sich – möglicherweise unter griechischem Einfluß – die Vorstellung durch, daß diese Plätze durch „Numina“ (Geister oder Wesen) bewohnt waren, denen man nach und nach eine Gestalt und einen Namen gab.

Die ursprünglichen Numina waren geschlechtslos, was später zum Teil zu absonderlichen Namenskonstrukten führte (der Name „Venus“, zum Beispiel, ist grammatikalisch betrachtet eigentlich männlich). Zudem waren Numina nicht nur an Orten, sondern auch in veränderlichen Dingen zu finden (wie wachsendem Getreide) und sogar in Tätigkeiten, wie dem Reisen.

Eine typisch römische Eigenentwicklung ist auch die Personifikation und Vergöttlichung von abstrakten Tugenden wie Concordia (Eintracht), Pax (Frieden), Fides (Treue), Honos (Ehre), Felicitas (Glück), Dignitas (Würde), Iustitia (Gerechtigkeit), die für den Römer als wichtige Reflexion des Handelns zu werten sind. Zu diesen Tugenden gab es zu Beginn keine bildlichen Darstellungen, erst später wurden ihnen menschliche Körper mit typischen Attributen und Erkennungszeichen zugeordnet (wie Füllhorn oder Waage). Den Höhepunkt fand der Wandel der „Numina“ in der Verehrung des Imperators als „Manifestation des ihm innewohnenden Wirkens der Götter“. Götter selbst haben ihr „Numen“ – ihre göttliche Kraft, so daß man immer dann, wenn man einen Gott anruft, tatsächlich um dessen Numen bittet, das er einem für die Aufgabe zur Verfügung stellt. Götter in Tiergestalt (wie in Ägypten weit verbreitet), wurden eher mit Skepsis betrachtet.

Wichtiger als sich Gedanken über Leben und Treiben der Götter in ihrem Reich zu machen, ist die praktische Erfahrung, die rituelle Handlung, die die persönliche Beziehung festigt und das Beachten von Vorzeichen (Träume, Gewitter, Vogelflug).

Apollo mit Kithara, Wandgemälde aus Pompeji

Apollo mit Kithara, Wandgemälde aus Pompeji

Ebenfalls wichtiger, als sich mit dem „Who’s who“ zu befassen, ist es in der Römischen Religion, die richtige Form zu beachten. Die praktische korrekte Durchführung eines Ritus ist wichtiger, als genau zu wissen, wer es ist, an den man sich wendet.

Der Römer schließt nicht einmal aus, daß der Name, unter dem er einen Gott anspricht, nicht dessen richtiger Name ist – weswegen es üblich ist, bei exotischeren Göttern den Zusatz „oder unter welchem Namen Du sonst bekannst sein möchtest“ oder ein „seist Du Gott oder Göttin“ hinzuzufügen . Ebenso ist es üblich, sich am Ende eines Rituals dafür zu entschuldigen, falls man einen Ritus durch eine falsche Handlungsweise nicht ganz korrekt hinbekommen haben sollte: “Di immortales, si quo modo hunc ritum violavi, accipite volentes propitii hoc tus, ut errores mortales meos expiem.” – “Ihr unsterblichen Götter, falls ich irgendetwas getan haben sollte, das diesen Ritus verletzt, nehmt dieses Räucherwerk als Entschuldigung für den Irrtum eines Sterblichen.”

Auch hatte nicht jeder Gott eine feste Zuständigkeit, oft sind mehrere Götter für das gleiche Gebiet zuständig und man wendet sich an den, der einem näherliegt, der in der Region weiter verbreitet ist oder mit dem man in der Vergangenheit gute Erfahrungen gemacht hat.

Vor einem Krieg war es selbstverständlich, die Götter um die Gunst für die eigene Seite anzurufen und sie durch Opfer und Versprechen wohlwollend zu stimmen („Vota“). Es galt als selbstverständlich, daß Götter sich in den Ausgang eines Krieges einmischten und man wertete das Ergebnis als Antwort auf die vorher durchgeführte Vota.

In den zahlreichen römischen Provinzen des großen Reichs wurden im Laufe der Geschichte immer wieder lokale Gottheiten (als eigenständige Gottheiten oder als Aspekte bekannter Götter) eingeführt und verehrt. Es war auch üblich, sich vor einer Schlacht an die Götter verfeindeter Völker zu wenden und ihnen einen eigenen Tempel und Verehrung zu versprechen, wenn sie ihr Volk in der Schlacht verließen und sich auf die Seiten der Römer schlugen (diese Praxis wird „Evocatio“ genannt). Ein Sieg wurde als Zeichen gewertet, daß die gegnerischen Götter die Seiten gewechselt hatten und das Versprechen,  ihnen in Zukunft Verehrung in eigenen Tempeln zukommen zu lassen, wurde eingelöst.

Da die Römer aufgrund der Überlegenheit ihres Militärapparats viele Schlachten gewannen, fanden auf diese Weise etliche fremde Gottheiten Einzug in die römische Glaubenswelt, wie keltische, afrikanische oder kleinasiatische Götter, die sich zum Teil großer Beliebtheit erfreuten und weite Verbreitung im ganzen Reich fanden. Da man davon ausging, daß in einer fremden Region lokale Götter besonders mächtig waren, sicherte man sich ihre Gunst, indem man sie auf seine Seite zog.

Die Religio Romana ist nicht auf eine Sprachgruppe, ein Herkunftsland oder eine Ethnie beschränkt, wie dies oft z.B. bei einigen neuheidnischen Gruppen der Fall ist, die sich auf das „Blut ihrer Vorfahren“ berufen, oder wie es bei den Griechen der Fall war, bei denen die Zugehörigkeit zur griechischen Kultur durch die Zugehörigkeit zu einer ethnisch relativ einheitlichen und geographisch festgelegten Gruppe definiert war.

Lararium aus Pompeji. Typische Elemente: die Laren links und rechts, in der Mitte der Genius, darunter die Schlange

Lararium aus Pompeji. Typische Elemente: die Laren links und rechts, in der Mitte der Genius, darunter die Schlange

Tatsächlich war bei den Römern jeder willkommen, der sich zu römischen Wertvorstellungen, dem römischen Glauben und der Gesellschaftsordnung bekannte. Die römische Identität basierte darauf, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die durch kulturelle, politische und religiöse Werte verbunden war: Durch die Bräuche, die religiösen Praktiken, Moralvorstellungen und nicht zuletzt dem Lebensstil. Dabei spielte die Herkunft überhaupt keine Rolle, genauso wenig wie die Hautfarbe. Wer im römischen Stil lebte und im „Mos Maiorum“ und der „Romanitas“ aufging, römische Tugenden, Bräuche und vor allem den Glauben pflegte, war ein Römer. Selbst wer in den entlegensten barbarischen Provinzen bereit war, sich zu „romanisieren“, hatte Möglichkeiten, die römischen Bürgerrechte zu erlangen. So konnte man auch als Gallier, Britannier, Afrikaner oder Germane durchaus „Römer“ sein.

Deshalb gilt dieser Grundsatz auch heute noch im Cultus Deorum Romanorum. Wer sich zur Romanitas und dem römischen Glauben bekennt, der ist willkommen, gleich woher er stammt.

Neben den großen Göttern und dem Staatskult spielt auch der private Kult eine fundamental wichtige Rolle. Neben den Göttern werden vor allem die Laren und Penaten verehrt, Haus,- Vorrats-, Ahnen- und Weggeister. Geister und Dämonen aller Art werden als selbstverständlich angesehen und insbesondere die Geister der Ahnen nehmen regen Anteil am Leben des Bürgers.

Eine (verallgemeinerte) Zusammenfassung der grundsätzlichen Regeln lautet:

  • Der Cultus ist polytheistisch.
  • Die Götter existieren und sind immer gegenwärtig.
  • Es gibt zahllose Götter, die nicht alle bekannt sind, und jeder von ihnen hat genau festgelegte Funktionen, die in vielfältigen Bereichen und Formen ausgeübt werden können
  • Die Götter sind dem Menschen gegenüber generell wohlwollend eingestellt. Sie sind nicht allmächtig und haben individuelle Stärken und Schwächen, sind dem Menschen jedoch überlegen und halten deshalb eine höhere Stellung innerhalb der Gesellschaft inne.
  • Sie sind nicht interessiert daran, ihre überlegenen Fähigkeiten ständig im Alltag zur Schau zu stellen; im Alltagsleben verhalten sie sich nicht wie Tyrannen oder Herrscher, sondern werden als wohlwollende „Mitbürger“ oder Patrone betrachtet (Seneca, Briefe an Lucilius).
  • Eine Beziehung oder Interaktion zwischen Menschen und Göttern verlangt nach menschlichen Handlungen und Aktionen.
  • Religio und Pietas sind die Grundlage des religiösen Lebens.
  • Die Beziehungen zwischen Menschen und Göttern basieren nach römischer Tradition auf Verstand und Rationalität, den obersten Gesetzen einer kultivierten Gesellschaft. Terror, Angst und Aberglaube, genau wie übertriebene, devote Frömmigkeit und Unterwürfigkeit im Angesicht der Götter ist deswegen fehl am Platz und wird abgelehnt (Superstitio).
  • Götter können ihren Willen kund tun und tun dies in Form von Zeichen oder Handlungen.
  • Götter üben keine Kontrolle über den Geist eines Menschen aus oder sind interessiert daran, dessen Gedanken zu kontrollieren.
  • Bitten an die Götter sind in Form eines Vertrags abzuschließen, an den sich beide Seiten bei Erfüllung zu halten haben.
  • Der Cultus Deorum ist eine Religion ohne Offenbarung, ohne Offenbarungsschriften und ohne Orthodoxie. Zentrales Element ist stattdessen die Orthopraxie, das heißt die Durchführung von festgeschriebenen Ritualen. Philosophische Spekulationen über oder das Verständnis der Natur der Götter sind für die Praxis des Kultes unerheblich und Privatsache.
  • Die Religion ist ritualistisch und traditionalistisch, gleichzeitig aber offen und anpassungsfähig.
  • Es gibt keine Amtshierarchie oder einen einzelnen religiösen „Führer“, sondern religiöse Autorität wird innerhalb der verschiedenen Kulte für einzelne Gottheiten sowie den sonstigen religiösen Funktionen aufgeteilt.
Janus, Gott aller Anfänge, Türen und Tore, ist ein urrömischer Gott ohne  griechische Entsprechung (Münze aus Canusium)

Janus, Gott aller Anfänge, Türen und Tore, ist ein urrömischer Gott ohne griechische Entsprechung (Münze aus Canusium)

„Religio“ bezeichnet die grundsätzliche Vorstellung, daß die Götter die wohlwollenden und gutmeinenden Partner der Sterblichen in der Verwaltung und Betreuung der Welt sind. Festgeschriebene Rituale sind notwendig und die angemessene „Bezahlung“ für die Hilfe und Unterstützung durch die Götter.

„Pietas“ ist die Einstellung zur ernsthaften, respektvollen und vertrauensvollen Pflichterfüllung gegenüber den Göttern, sowie das aus innerem Antrieb heraus empfundene und praktizierte Pflichtbewußtsein gegenüber Göttern und Menschen. Die Pietas gilt umgekehrt auch für die Götter – halten die Menschen ihren Teil des Vertrags ein, halten auch die Götter sich an ihre Vereinbarungen und Pflichten.

„Superstitio“ bezeichnet jedes unterwürfige und devote Verhalten gegenüber einem Gott, das dem Zweck dient, den Ärger eines Gottes zu besänftigen, der Glaube an einen strafenden und zürnenden Gott, oder aber das Verlangen, sich göttliches Wissen oder göttliche Kräfte durch magische oder andere Mittel anzueignen.

Als Religion der „Orthopraxie„, nicht der „Orthodoxie“ (im Gegensatz zum Christentum), gibt es keine festen Dogmen oder vorgeschriebene Glaubensvorstellungen über die Natur der Götter oder Jenseitsvorstellungen etc. die alle Cultores teilen müssten. Tatsächlich ist die Spannbreite der Göttervorstellungen sehr breit gefächert und „Theologie“ steht nicht im Fokus der Kultpraxis oder des allgemeinen Interesses, sondern bleibt Privatsache. Die Kultpraxis hingegen ist stark formalisiert und geregelt, da auf sie das Hauptaugenmerk des Praktizierenden gerichtet ist.

Das ist nur ein kurzer Anriß zum Cultus Deorum Romanorum; natürlich ist dieses Thema viel weitläufiger und vielschichtiger, als in dieser Einleitung beschrieben. Wir hoffen aber, daß unsere Leser hier trotzdem eine (ganz grobe) Vorstellung vom römischen Rekonstruktionismus und dem damit einhergehenden Cultus erhalten haben und wir das Interesse an dieser Religion geweckt haben! 🙂

Weiterführende Informationen, Artikel und Gedanken rund um den Cultus Deorum Romanorum findet Ihr in unserem Blog. Eine Übersicht über die bisher verfaßten Artikel ist hier zu finden.

Die wichtigsten Fragen und Antworten zum Cultus, insbesondere für Einsteiger, haben wir hier in einem FAQ zusammengestellt!

Fragen, Anregungen und Kritik könnt Ihr gerne als Kommentar hinterlassen, wir freuen uns über Feedback!


9 Kommentare

  1. caius sagt:

    Salvete Romani

    Das ist alles sehr spannend und eure Arbeit hier ist sehr bewundernswert! Vielen Dank!
    Ich frage mich, bei dieser Betonung auf Kultpraktiken, was passiert, wenn absichtlich bei einem Opfer betrogen wird. (Römer waren ja auch korrupt und eigensinnig :-)) Z.B. die wenn Nicht-Annahme des Opfers durch einen Gott ignoriert wird, einem Gott weniger geopfert wird, als es das Ritual vorschreibt etc. Bisher habe ich zu Betrug nichts gefunden, ausser bei Laomedon und Prometheus. Allgemein wüsste ich nichts über Bestrafungen durch Götter. Wisst ihr dazu vielleicht etwas?

    Römische Grüße!

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    • Salve Cai,

      vielen Dank für Deine lobenden Worte, es freut uns, das Du unsere Seite mit Gewinn durchstöberst 🙂

      Kurz zu Deiner Frage: Sicherlich gab es bei den Römern wie überall und zu allen Zeiten korrupte Personen und manch einer mag im Leben gerne eine Abkürzung gesucht und genutzt haben. Im Bereich der Religion müssen wir, wie so oft, unterscheiden zwischen der sacra publica und der sacra privata und bei letzterer wird es weniger Möglichkeiten gegeben haben, das bestimmte Abweichungen im Kultgeschehen in dem Sinne, wie Dir dies hier wohl vorschwebt, auffällig wurden. Dies war allerdings durchaus möglich in der öffentlichen Kultpraxis und es gab wohl auch Fälle, wo man, etwa weil man sich an einem größeren Opfer beteiligen wollte oder musste, versuchte ein wenig zu tricksen.

      Diesen Fall können wir z.B. durch eine rechtliche Verfügung des Pontifex Maximus Tiberius Coruncanius annehmen, der sich einmal in Ausübung seines Amtes genötigt sah, festzulegen, daß Wiederkäuer keine reinen und damit gültigen Opfertiere sein können, bevor sie nicht zwei permanente Zähne haben…es schien also so gewesen zu sein, das man hier versuchte ein Opfer durch die Verwendung von besonders jungen Tieren kostengünstig zu gestalten – was aber wohl nicht dem Sinn des in Frage stehenden Opfers entsprach (und was somit Deinem Beispiel „einem Gott weniger opfern, als es das Ritual vorschreibt“ schon recht nahekommt). Wurde so etwas auffällig, dann wurde konsequent im römischen Verständnis weitergedacht und eben eine Regelung gefunden und als Verfügung erlassen, die solche Vorfälle künftig unterbinden sollte. Das war die Aufgabe des obersten Kollegiums der Pontifices, ein Gremium aus 16 Kultbeamten dem der Pontifex Maximus vorstand. Dieses Gremium wachte über das Sakralrecht, was grundsätzlich jede religiöse Praxis betraf – sprich diese Gutachter des religiösen Rechts setzten Bestimmungen und Auflagen sowohl in Bezug auf die öffentlichen wie auch die privaten Riten in Kraft. Das dies in der sacra privata weniger eine Rolle spielte, lag in der Natur der Sache, denn dort gab es eben keine Überwachung dessen, was der Hausherr in seinem Domus tat. Gab es Überschneidungen zwischen privatem und öffentlichem Geschehen, etwa bei Bestattungen oder anderen Riten, die auch in der Öffentlichkeit stattfanden, griff diese Überwachung schon eher, einfach weil dann die Dinge auch von anderen wahrgenommen und beurteilt werden konnten.

      Betrug in dem von Dir erwähnten Sinne, mag es aus rein profitorientierten Gründen deshalb im öffentlichen Bereich gegeben haben, wenn sich Menschen gezwungen sahen, an Opfern oder anderen religiösen Riten teilzunehmen, die das aber nicht aus innerer Überzeugung taten, sondern dann nur versuchten, eine mögliche Belastung aus dieser Aktivität, um die sie z.B. aus gesellschaftlichen Gründen nicht herumkamen, möglichst gering zu halten. Im privaten Bereich, wenn man sich mit seinen Anliegen an die Götter wendet, oder an die Laren, wird man dies nur tun, wenn man das Bedürfnis hat, sich die Hilfe der Götter zu sichern. Hat man dieses Bedürfnis, wird man kaum auf den Gedanken kommen, die Götter zu betrügen…

      Die Idee, das die Götter Menschen strafen und ihnen Übles antun gehört für die Römer zur superstitio, also zu einer irrigen Ansicht im Bereich der Religion. Die Götter gelten in der Religio Romana als grundsätzlich wohlwollend, wobei in etwa der Gedanke dahinterstand, das man dachte, nur gute Menschen können glücklich sein und da die Götter per definitionem als glücklich galten, mussten sie von ihrem Wesen her gut sein. Auf der anderen Seite gab es durchaus die Vorstellung, das es auch andere Geistwesen gab, die den Menschen schaden konnten, etwa die Lemuren, übel gesonnene Totengeister und andere Wesen, die in der Natur anzutreffen waren und eben auch dem Menschen feindlich gesonnen sein konnten.

      Ich hoffe, ich konnte Dir ein wenig weiterhelfen 🙂

      Vale!

      Ludovicus

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  2. Sólveig sagt:

    Hi, Hallo!

    Ich hab mal wieder eine Frage 🙂
    Kennt die Religio Romana bzw. kannten die Römer früher so etwas wie Miasma? Wenn ja, wie hieß es und was hatte es für Auswirkungen?
    Gab es Situationen in denen Menschen als besonders kultisch „verunreinigt“ galten, so wie bei den Griechen?
    Welche Rolle spielte die kultische Reinheit im haushaltlichen Kult? War es z.B. notwendig sich besonders zu reinigen bevor man den Laren und Hausgöttern geopfert hat (Hände waschen oder so)?

    Ich würde mich sehr über eine Antwort freuen 🙂

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    • Salve Solveig,

      Kennt die Religio Romana bzw. kannten die Römer früher so etwas wie Miasma? Wenn ja, wie hieß es und was hatte es für Auswirkungen?

      Nun, bei der Verwendung des Begriffes Miasma muss man hier umgekehrt ansetzen. Weder die Römer noch die Griechen kannten resp. benutzten den Begriff für das, was allerdings sehr wohl verbreitet war – die Vorstellung, das es Gegenden gab, deren Luft schlecht oder vergiftet war. Dass es Ausdünstungen gab, die ihren Ursprung in Sümpfen oder anderweitig schlecht riechenden Orten hatten, deren Geruch also schon darauf hinwies, das in der Luft verdorbene oder verfaulende Teilchen enthalten waren, wie man vermutete, deren Einatmen Krankheit verursachte. Die Malaria etwa war den antiken Ärzten bereits bekannt und Hippokrates unterschied sehr genau verschiedene Formen und Phasen dieses Fiebers und brachte es auch mit Sümpfen und stehendem Wasser in Verbindung. Das es durch eine Mücke übertragen wird, war nicht bekannt, man ging von krankmachenden Anteilen im Wasser aus, das durch mangelnden Zufluß faulig wurde, üble Ausdünstungen verursacht und damit krankheitserregend wird. Malaria heißt denn auch nichts anderes als „schlechte Luft“ (Mala aria).

      Der Begriff Miasma als ein lateinisches Lehnwort (bezogen auf das grch. μίασμα „Verunreinigung“) wurde erst im 17. Jhd für die im 5. Jhd v. Chr. erstellte Theorie der „schlechten Luft“ verwendet. Da man in dieser schlechten Luft aber eben einen Hauptgrund für Krankheiten sah, spielte diese Theorie durchaus eine wichtige Rolle und wurde zu einem Faktor bei der Besiedelung von Orten resp. dem Errichten von Häusern. Vitruvius etwa spricht in seinen 10 Büchern über Architektur über solche ungesunden Gerüche und Ausdünstungen und es wurde gemeinhin empfohlen tiefliegende und sumpfige Gegenden zu meiden und Wohnstätten nach Möglichkeit auf Anhöhen zu errichten, wo frische Luft solch krankmachenden Dünsten vorbeugte. Somit führte diese Theorie erfolgreich zur Vermeidung von Krankheiten, auch wenn sie nach heutigem Kenntnisstand falsch war – wobei man nun darüber streiten kann, was hier „falsch“ bedeutet, denn im eigentlichen Sinne ist es „schlechte Luft“ die krank macht, wenn etwa Bazillen und Viren durch die Luft übertragen werden, sich in fauligem Wasser Krankheitserreger entwickeln etc.. Insofern war man hier intuitiv nicht ganz auf dem Holzweg.

      Gab es Situationen in denen Menschen als besonders kultisch “verunreinigt” galten, so wie bei den Griechen?

      Das gab es durchaus, allerdings sind wir hier in den Quellen auf verstreute Hinweise angewiesen, was kultische Reinheit im Einzelnen betrifft. Also es ist uns kein schriftliches Werk bekannt, das nun detailiert auf diesen Punkt eingehen würde z.B. vergleichbar dem jüdischen Buch Leviticus. Aber wir wissen, das in der römischen Vorstellung des Pax Deorum, also das zu erstrebende gute Verhältnis der Menschen zu den Göttern – und andersrum – betreffend, Reinheit und Ordnung essentiell waren. Aus diesem Grund etwa sind Formalien so wichtig, so das ein Ritus alleine schon deshalb ungültig wird, wenn man sich verspricht und deswegen wiederholt werden muss. Die Götter haben ein Recht darauf, das solche kultischen Strukturen minutiös beachtet werden, weil dies ein Ausdruck von Aufmerksamkeit und damit Respekt ist.

      Reinheit gehört zur Ordnung, so wie umgekehrt Unreinheit Unordnung begünstigt und quasi verursacht und Unordnung, Chaos birgt grundsätzlich Gefahren, vor allem aber im sakralen Bereich. In diesem Sinne wurden Reinigungen mit Wasser, Weihrauch, besonderen Opfergaben etc. beachtet sowie grundlegende Gefahren einer Verunreinigung von vorneherein vermieden. Aus diesem Grunde wurden die Toten außerhalb der Stadt, jenseits der Gesellschaft der Lebenden, bestattet. Der Tod, der Kontakt zu Toten, führte zu einer Verunreinigung und man musste sich dieser wieder entledigen. So gab es den Brauch das Haus nach einer Bestattung auszufegen, genauer gesagt in ritueller Form die Türschwelle, um somit durch eine Handlung, die deutlich Reinigung anzeigt und Reinheit begründet, wieder den normalen, geordneten Zustand herzustellen.

      Es gab bestimmte Dinge und Umstände die zu kultischer Unreinheit führen konnten, wie wir das in vielen Kulturen kennen, vor allem Blut und Sexualität spielen hier eine Rolle. Auch wenn etwa Tieropfer Teil des Kultes waren, so mussten hier besonders die religiösen Regeln beachtet werden, damit aus dem an sich Gefahr bergenden Blutvergießen nicht tatsächlicher Schaden erwuchs, sondern Segen. Sexualität an heiligen Orten verursachte eine Unreinheit an eben jenen, die Keuschheit der Vestallinnen begründete eine besondere Weihe und Reinheit, manchmal bereitete man sich durch sexuelle Abstinenz auf bestimmte Riten vor, die Menstruation bedingte eine Unreinheit im kultischen Sinne, basierend auf der angezeigten Nähe zu Blut und im übertragenen Sinne damit zum Tod. Das gleiche gilt für die Umstände der Geburt. Manche Mysterien, die entweder Frauen oder Männern vorbehalten waren, sahen in der Teilnahme des anderen Geschlechtes eine Verunreinigung, weil durch diese Regelverletzung Disrespekt der Gottheit gegenüber ausgedrückt wurde.

      Grundsätzlich ist dies aber ein recht komplexes Thema, was sich an dieser Stelle nicht erschöpfend referieren lässt.

      Welche Rolle spielte die kultische Reinheit im haushaltlichen Kult? War es z.B. notwendig sich besonders zu reinigen bevor man den Laren und Hausgöttern geopfert hat (Hände waschen oder so)?

      In der sacra privata spielt die Reinheit eine ebenso grundsätzliche Rolle wie in den Riten der sacra publica, also wie korrekt vermutet ist die Waschung der Hände und auch des Gesichtes vor einer religiösen Handlung angebracht. Darüberhinaus sollte dem Lararium oder einem Sacellum/Sacrarium, die einer Gottheit geweiht sind, immer große Aufmerksamkeit geschenkt werden, was Reinheit angeht. Wie wir das ja schon in diversen Artikeln erwähnt haben, Sauberkeit ist hier ein Zeichen von Respekt. So sollten keine Aschereste, oder Weinflecken ein solches Hausheiligtum verunreinigen, vergammelnde Opferbrote sind ebenso zu vermeiden wie zugesponnene Götterdarstellungen. Da man in der Regel im häuslichen Kult auf Blutopfer verzichtet und auch die rituelle Ansprache der im Haus verehrten Gottheiten ein enges und sehr persönliches Verhältnis wiederspiegelt, so sind besondere Formeln und Riten zur Etablierung einer kultischen Reinheit nicht notwendig. Eine grundlegende innere und äußere Reinheit, also die Abwesenheit von negativen Emotionen und Schmutz, sollte als Richtschnur ausreichen.

      Ich würde mich sehr über eine Antwort freuen 🙂

      Ich hoffe, das dies trotz der Kürze der Darstellung hilfreich war. Als Literatur zum Thema empfehle ich Pollution and Religion in Ancient Rome von Dr Jack J. Lennon.

      Vale,

      Ludovicus

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  3. Vielen Dank für diese tolle Seite! Werde öfters vorbeischauen und mir Anregungen holen. 😉
    Und wieder bin ich als keltische Rekonstruktionistin etwas neidig auf die Quellenvielfalt bei Euch „Römern“.
    Vale
    Mc Claudia

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  4. Curtis Nike sagt:

    Ein wirklich umfassender und äusserst aufschlußreicher Artikel! Die römischen Götter begegnen mir durch meine Arbeit im astrologischen Kontext nahezu Tag täglich, was äußerst interessant ist. Menschen mit unterschiedlichem spirtuellen oder religiösen Background wissen über Mars, Venus, Luna und Pluto bestens Bescheid, ohne ein konkretes Bewußtsein für römische Religiösität zu haben.
    Eine Frage habe ich, aus der Reclaiming-Richtung kommend, gibt es in den römischen Schriften auch Hinweise auf Farbzuordnungen? Beispielsweise für Hochzeitrituale oder auch konkret auf bestimmte Gottheiten bezogen (so wie wir in der Reclaiming-Tradition beispielsweise Sol = golden, Luna = silber, Pluto = Schwarz etc.) verwenden würden?
    Falls diese Frage im Verlaufe Bloges bereits geklärt wurde – einfach ignorieren, ich arbeite mich gerade durch 😉

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    • Vielen Dank für Deinen Kommentar.

      Die von Dir angesprochenen komplexen Farbzuordnungen, die es heute in verschiedenen neopaganen Strömungen gibt, kommen wohl eher über die Vermittlung aus magischen/hermetischen Lehren (ähnlich wie etwa das oft im Asatru verwendete Hammer-Ritual zur Segnung eines Ortes eine Adaption des Pentagramm-Rituals ist und keinen genuin germanischen Ritus darstellt) und sind in dieser Form in der römischen Religion nicht bekannt. Sicherlich spielen Farben in einer gewissen Weise eine Rolle, aber über eine grundsätzliche Zuordnung und Bedeutung ging das nicht hinaus. So wurden Tiere mit hellem Fell als Opfer für die Götter des Himmels, rötliche Tiere für die Feuergottheiten und dunkle Tiere für die chthonischen Götter dargebracht. Schwarz galt wie bei uns heute als Trauerfarbe (die auch im Sinne eines symbolischen Protestes verwendet werden konnte, so trug etwa Cato der Jüngere ausschließlich schwarze Togen, um seiner Trauer über den Niedergang der Republik und seine Ablehnung der Politik Gaius Julius Caesars Ausdruck zu verleihen).

      Rot kann allgemein symbolisch als Farbe des Blutes gelten und ist als besonderes Merkmal bei einem Triumphzug verwendet worden (der Triumphator hatte sein Gesicht rot bemalt, um die Ähnlichkeit mit der ebenfalls in dieser Farbe gehaltenen Statue des Jupiter Optimus Maximus deutlich zu machen). Purpur wiederum war eine Farbe, die bei der von Senatoren und Kaiser getragenen Toga (toga praetexta) Verwendung fand und wegen der Tatsache, daß es einer der teuersten Farbstoffe war, als besonderes Auszeichnungsmerkmal diente. Damit handelte es sich aber schon um ein reines Statussymbol ohne religiöse oder ‚esoterische‘ Bedeutung.

      Gefällt 1 Person

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