Roma locuta, causa finita
Dieses bekannte „Zitat“ des Kirchenlehrers Augustinus von Hippo (354–430), bedeutet „Rom hat gesprochen, der Fall ist beendet“ und soll verstanden werden im Sinne von „Wenn Rom gesprochen hat, ist die Diskussion über den Sachverhalt beendet, es gibt dazu nichts mehr zu sagen.“

Älteste Darstellung des Augustinus,
Mosaik an der Kapelle Sancta
Sanctorum in Rom, 6. Jh.
(Wikimedia, gemeinfrei)
Zwar hat Augustinus den entsprechenden Teil seiner Predigt aus dem Jahr 417 n. Chr. (Sermo 131, 10) über die Entscheidung des Papstes bezüglich der Lehren des Pelagius genau in diesem Sinne verstanden wissen wollen, aber er hat wörtlich nur das „causa finita“ benutzt.
Es ist mittlerweile aber ein geflügeltes Wort in der oben genannten, ergänzten Form und bringt so einen Punkt prägnant zum Ausdruck, den wir als Ausgangspunkt für die folgenden Ausführungen für wichtig erachten, nämlich die Tatsache, dass das Christentum ab einem bestimmten Zeitpunkt zur Staatsreligion, zur Sacra Publica des Imperium Romanum geworden ist – ein Fakt, der sich nicht wegdiskutieren lässt.
Dies wurde also durch die Römer selbst entschieden – es geschah in ihrer Zeit und Lebenswirklichkeit, innerhalb der Kultur des römischen Reiches und eingebunden in den Kontext der traditionellen Kulte, was eine besondere Sichtweise auf Änderungen im öffentlichen religiösen Leben mit sich brachte. Deswegen stellt es für uns, die wir diese Geschichte studieren und anhand der Quellen zu verstehen versuchen, erst einmal nur einen weiteren organischen Schritt in der Entwicklung der römischen Geschichte dar, gegangen vom römischen Volk selbst.
Wir, die wir nach ihnen kommen, uns ihnen verbunden fühlen und in einer Kultur sozialisiert sind, die bereits selbst schon wieder einen weiteren Schritt in dieser fortlaufenden Geschichte und Kultur darstellt, müssen akzeptieren, dass wir in dieser historischen Entscheidung einerseits kein Mitspracherecht haben und wir sie andererseits auch nicht einfach ignorieren können.
Uns stellt sich nur die Frage, wie wir heute mit dieser Entscheidung derer, die vor uns waren, umgehen. Um hier zu einer befriedigenden Antwort zu kommen, gerade auch vor dem Hintergrund der Praxis der Religio Romana in unserer Zeit, ist es unabdingbar, sich von diversen Vorstellungen und Stereotypen zu verabschieden, die aus dem Blick auf die Geschichte durch eine quasi ideologische Brille erwachsen sind.
Wir müssen deshalb eine Perspektive einnehmen, die der entspricht, welche den religiösen wie politischen Entscheidungen im antiken römischen Staat zugrunde lag, um hierbei zu einer adäquaten Einschätzung kommen zu können.
Um diesen Punkt der Perspektive noch einmal konkret zu fassen, ist es wichtig zu betonen, Rekonstruktionismus ist keine Religion, auch nicht im Paganismus eine Denomination oder Konfession, sondern eine Herangehensweise, eine Methode.
Es geht dabei um die konstruktive Evaluation von Quellen, von tradiertem Wissen über eine Religion und Kultur, um diese in einem zeitgenössischen Kontext authentisch leben zu können. Im Rekonstruktionismus finden wir oft eine eher ganzheitliche Betrachtung, was aber besonders für den römischen Rekonstruktionismus gilt. Dies bedeutet, es geht nicht nur um den Teilaspekt der Religion, sondern grundsätzlich um die Kultur, um die „Romanitas“ von der die Religio – einschließlich der Sacra Publica – ein untrennbarer Teil ist.
Durch diese spezifische Betrachtungsweise kommt es naturgegebenermaßen zu einer natürlichen Einbeziehung von historischen Entscheidungen, die innerhalb der römischen Geschichte getroffen wurden und damit die Entwicklung des Römischen Reiches und der ihm zugrundeliegenden Kultur, wie auch der Aspekte, die in der Folge davon als römisches Erbe Europas immer noch aktuell sind, mitgestaltet haben. Durch diese Akzeptanz von historischen Entscheidungen kommt es generell zu einer anderen Sichtweise auf das Imperium Romanum, das wir zwar durch bestimmte Veränderungen in seiner historischen Entwicklung gekennzeichnet sehen, dem wir aber eine grundsätzliche Kontinuität zuschreiben, die kulturell bis heute nachwirkt.
Aus diesem Grunde sehen wir im Niedergang des weströmischen Reiches im 5. Jahrhundert nicht den „Untergang des Römischen Reiches“ schlechthin, denn auch wenn man gerne vom Byzantinischen Reich spricht, gab es ein solches nicht im Selbstverständnis der Römer, die sich auch im östlichen Teil des Reiches immer als solche betrachteten und bezeichneten (grch.: Ῥωμαῖοι / Rhōmaîoi). Es vollzog sich zwar im Ostteil des Reiches schon früh eine Vermischung der römischen Kultur mit griechisch-orientalischen Elementen (wobei aber auch im westlichen Teil des Imperiums Griechisch seit jeher die Sprache der Gebildeten war), eine stärkere Gräzisierung des Römischen Reiches fand allerdings erst nach dem Niedergang des westlichen Herrschaftsbereiches statt.

Byzantion wurde, nachdem Konstantin es für seine Neugründung Konstantinopel erwählt hatte, auf das Fünffache der ursprünglichen Fläche vergrößert, wie das Vorbild Rom auf sieben Hügeln errichtet und entsprechend der politischen und weltlichen Strukturen der alten Hauptstadt glanzvoll ausgebaut. So erhielt Konstantinopel ein Kapitol, einen dem Senat in Rom vergleichbaren Rat, einen Circus für 100.000 Zuschauer, ein Forum (Forum Constantini) und eine Hauptverkehrsachse in ost-westlicher Richtung. Es war das Zentrum der Wirtschaft, Kultur und Verwaltung des Oströmischen Reiches kontinuierlich von der Spätantike bis zum Beginn der Neuzeit. (Bild: Antoine Herbert, Portfolio Konstantinopel vom 4. bis 8. Jahrhundert, eine Bilderreihe zur Byzantinischen Architektur)
Das Oströmische Reich war also kein „Nachfolger“ des Weströmischen Reiches, wie man dies manchmal liest, sondern es gab immer nur ein einziges Imperium Romanum und die seit der sog. Reichsteilung 395 n. Chr. vollzogene Aufteilung in einen westlichen und östlichen Teil war im eigentlichen Sinne eine Herrschaftsteilung von 2 Kaisern, eine Aufteilung des „Imperiums“, also der höchsten exekutiven Macht im Staat, keine Aufteilung oder Trennung des Römischen Reiches an sich.
Das Imperium Romanum ging somit erst 1453 n. Chr. mit der Eroberung seiner Hauptstadt im Osten, Konstantinopel, entstanden durch den großzügigen Ausbau des ehemaligen Byzantion, tatsächlich als Staat zu Ende. Wir betonen dies, weil diese Kontinuität für unsere Herangehensweise an die römische Geschichte und Kultur entscheidend ist.
Die Wortverbindung „katholische Kirche“ wurde zwar bereits von Ignatius von Antiochien um das Jahr 110 n. Chr. verwendet, aber erst nachdem es unter Theodosius I. im Jahre 380 n. Chr. durch das Edikt Cunctos populos zur Erhebung und Einsetzung des Christentums – eben in seiner auf das Konzil von Nicäa im Jahre 325 n. Chr. zurückgehenden Form – als Sacra Publica kam und damit die Konsolidierung des Römisch-Katholischen belegte, wurde dieser nun christliche Charakter des Reiches später im Ostteil als staatlicher und kultureller Impuls weiter verstärkt (Zitat aus dem Wortlaut des Ediktes: „Hanc legem sequentes christianorum catholicorum nomen iubemus amplecti (…) / „Nur diejenigen, die diesem Gesetz folgen, sollen, so gebieten wir, katholische Christen heißen dürfen“) .
Die oft vorgetragene Idee, dass die Christianisierung des Imperium Romanum zu seinem Untergang im Westen führte oder diesen zumindest gefördert habe (betont bei Edward Gibbon in seinem Werk „The History of the Decline and the Fall of the Roman Empire“ und in der Folge immer wieder von diversen Seiten aufgenommen, heute jedoch von der historischen Forschung als widerlegt betrachtet), wird natürlich alleine durch die Tatsache hinfällig, dass sich das später dezidiert christliche Oströmische Reich bis ins 15. Jahrhundert behaupten konnte, auch wenn es anfangs nicht in dieser Form existierte.
Denn Kaiser Konstantin förderte zwar das Christentum, aber sein Konstantinopel wurde nicht als eine Art „christliches Rom“ gegründet, wie man manchmal zu lesen bekommt. Die traditionellen paganen Riten bei der Gründung der Stadt wurden ebenso selbstverständlich beachtet, wie die Renovierung von paganen Tempeln gefördert wurde.
In Hoc Signo Vinces… oder Götterdämmerung?
Wie konnte es nun zu einer solch breiten Akzeptanz eines ursprünglich so kleinen Kultes wie des Christentums und schließlich sogar zu seiner Erhebung zur Staatsreligon im Römischen Reich kommen?
Über die Gründe, warum sich dieser Kult im römischen Reich so schnell und erfolgreich verbreiten konnte, kann und soll man durchaus diskutieren, denn dahinter verbergen sich nicht nur Erkenntnisse über zu erwartendes politisches Machtkalkül, sondern vielmehr auch wichtige Hinweise auf die Gedanken und Gefühle der Menschen, die von dieser Entwicklung betroffen waren und die sie mit ihren Entscheidungen mitgetragen haben.
Denn entgegen so manch naiver Vorstellung von einer spirituellen Apokalypse, die quasi aus dem Nichts über die überraschten „Altgläubigen“ hereinbrach und innerhalb weniger Jahre durch – von der Kirche angeordnet – Folter, Terror und Hinrichtungen die widerwillige Aufgabe der eigenen Religion erzwang, um eine völlig fremde Tradition anzunehmen, verlief die historische Entwicklung nicht nur oft weniger dramatisch, sondern auch weitaus differenzierter – sowohl was die individuellen Beweggründe betrifft, die zu ihr führten, als auch bezüglich der Art und Weise, in der sie sich gesellschaftlich vollzog.

Konstantin-Relief in Neumagen: „Unter diesem Zeichen sollst du siegen“. Einer lokalen Mosel-Legende zufolge hatte er diese Vision auf den Anhöhen oberhalb von Noviomagus Treverorum…
Denn auch die auf den ersten Blick als „Entscheidung von oben“ erscheinende Förderung des Christentums durch Kaiser Konstantin I. in der Mailänder Vereinbarung des Jahres 313 n. Chr. und die nachfolgende Erhebung zur Sacra publica, also zur Staatsreligion, im Jahre 380 n. Chr. durch Theodosius I. muss auf der Grundlage der antiken Auffassung einer grundsätzlichen Verschränktheit von Politik und Kult betrachtet werden, sonst wird man der Sachlage nicht gerecht und neigt zu Fehlschlüssen in der Beurteilung.
Für die Menschen jener Zeit waren politische Entscheidungen zwar solche, die irdische Umstände betrafen, diese waren aber immer in Abhängigkeit von den göttlichen Mächten beeinflusst gedacht. Insofern ist zumindest alles Kultische (übersetzt in unsere Sprache – die Religion), was den Staat in irgendeiner Weise tangiert – und das Volk war Teil dieser Konstellation – in diesem antiken Denken immer auch politisch und Politik hatte immer eine religiöse Komponente. Das bedeutet, dass sich deswegen die Frage, die wir geneigt sind heute zu stellen – nämlich ob die Entscheidung bestimmter römischer Kaiser in Bezug auf die christliche Religion reines politisches Kalkül war oder auf ihrer persönlichen religiösen Einstellung basierte, keine ist, die sich mit einem entweder/oder , einem ja/nein so einfach beantworten ließe – sie geht in dieser Form auch schlicht an der Lebenswirklichkeit und dem Denken der antiken Gesellschaft vorbei.
Was die bereits angesprochenen stereotypen Vorstellungen und Mythen angeht, lassen sich interessanterweise umgekehrte Adaptionen der christlichen Geschichtsdeutung in neuheidnischen Kreisen finden, so etwa wenn die Schlacht an der Milvischen Brücke zwischen Kaiser Konstantin I. und Maxentius zu einem Glaubenskampf stilisiert wird, in dem angeblich die traditionellen Kulte gegen die neue Religion ins Feld zogen, um ihren Untergang abzuwenden. Bevor es jedoch zu dieser Schlacht kam, die historisch betrachtet ausschließlich ein Kräftemessen zwischen Konstantin und Maxentius war, den verworrenen und geteilten Herrschaftsstrukturen jener Zeit geschuldet, ging es weder um die alten Kulte, noch den neuen. Erst nach dem Sieg Konstantins wurde dies in christlicher Deutung retrospektiv als Sieg des vormals unterdrückten und nun aufsteigenden Christentums, sowie als beginnende Niederlage der alten Götter interpretiert, während neuheidnische Vertreter darin gerne eine bedeutungsschwere verlorene Schlacht des altgläubigen Maxentius gegen die mit dem christlichen Zeichen in den Kampf ziehenden Soldaten des die Tradition verratenden Konstantin sehen wollen.

Das Chi-Rho, eine Ligatur gebildet aus den ersten beiden Buchstaben des grch. Wortes Χριστός („Christus“), die mit den lateinischen Buchstaben X und P optisch identisch sind. Bereits in vorchristlicher Zeit als Symbol des Sonnengottes verwendet worden, wurde es ab dem 2. Jhd. als christliches Zeichen genutzt (Bild: Rom, Domitilla-Katakomben. Von Dnalor 01, lizensiert unter CC BY-SA 3.0, commons wikipedia)
Abgesehen einmal von der begründeten Annahme, dass die bekannte Schilderung, Konstantin habe allen seinen Soldaten vor der Schlacht befohlen, ihre Schilde mit dem Chi-Ro zu bemalen, eine Legende sein dürfte (es hätte sich einerseits kaum praktisch bewerkstelligen lassen, 40.000 Schilde auf die Schnelle noch zu bemalen, andererseits hätte Konstantin eine weitere Verunsicherung seiner immerhin mehr als 2 zu 1 zahlenmäßig unterlegenen Soldaten, die mehrheitlich Heiden waren, sicher nicht riskiert), war weder Konstantin vor dieser Zeit dem Christentum zugewandt, noch Maxentius ein Bekämpfer desselben. Im Gegenteil, letzterer war zwar selbst – ebenso wie Konstantin zu jener Zeit – ein Anhänger der traditionellen Religion, jedoch dem Christentum gegenüber äußerst tolerant eingestellt – was im übrigen ein prägnantes Wesensmerkmal der polytheistischen römischen Religion darstellt und die Adaption neuer Götter in ein bestehendes Pantheon als grundsätzlich unproblematisch kennzeichnet.
Die bekannte, von den Kirchenvätern Laktanz und Eusebius verbreitete, Geschichte von der berühmten Vision Konstantins, vor der Schlacht ein Christus-Symbol und die Botschaft In Hoc Signo Vinces (In diesem Zeichen wirst Du siegen) am Himmel gesehen zu haben, mag sich auf eine tatsächliche Vision des Kaisers beziehen oder auch nicht – sie wäre nicht seine erste gewesen, denn auch von Apollo und Victoria hatte er ähnliche Visionen geschenkt bekommen.

Der römische Sonnengott Sol Invictus. Dass Konstantin ihn, im Einklang mit der Interpretatio Romana mit Christus assoziiert hat, ist sehr wahrscheinlich.
Solche Vorzeichen waren und sind in der Religio Romana akzeptierte Kommunikationsformen mit dem Göttlichen und viel spricht dafür, dass Konstantin im christlichen Gott eine Verkörperung von Apollo oder des Sol Invictus, sah, eine ebenfalls im römischen Verständnis getreu der Interpretatio Romana mögliche Rückführung diverser Gottheiten auf eine Wirklichkeit. Zwar wurde er nach seinem Sieg in der Tat ein Förderer des christlichen Kultes, da er ihn der Unterstützung durch den in diesem verehrten Gott zuschrieb und sich gemäß traditionell römischer Art erkenntlich zeigte, aber wir haben hier weder einen apokalyptischen Endkampf vor uns zwischen alten und neuen Göttern, wie es manchmal versucht wird darzustellen, noch in Konstantin einen bekehrten Christen, der nun über Nacht die „Götzen“ bekämpfte.
Staatskult, häusliche Religion und Mysterienkulte in einer Zeit des Umbruchs
Die Menschen zwischen dem 2. und 4. Jahrhundert n. Chr. lebten in einer Zeit des gesellschaftlichen und auch religiösen Umbruchs, der zwar nicht über Nacht manifest wurde, aber dennoch in einem relativ eng gesteckten zeitlichen Rahmen verlief.
Nach der Umformung der römischen Republik in das Prinzipat durch Kaiser Augustus, der nachfolgenden Ausgestaltung der Kaiserzeit mit diversen politischen und ökonomischen Umwälzungen, welche letztlich über die Aufteilung der Machtstrukturen getragen von mehreren Kaisern gleichzeitig, dem Auftreten diverser Ursupatoren bis hin zur Etablierung eines funktionierenden und lange Zeit stabilen gallo-römischen Sonderreiches unter Postumus in den westlichen Provinzen, in mannigfaltige Konflikte führte, befand sich das Imperium Romanum in einem steten Transformationsprozess, der sicherlich nicht an der Psyche und Lebenswirklichkeit der Menschen, die in ihm lebten, spurlos vorbei ging.

Staatskult: Kaiser Marcus Aurelius opfert in seiner Funktion als Pontifex Maximus vor dem Jupitertempel auf dem Kapitol (Bild: gemeinfrei)
Die traditionelle römische Religion mit ihren etablierten offiziellen Kulten, deren Dienst für die Gemeinschaft durch staatliche Kultbeamte (ihre Bezeichnung als Priester ist im Grunde mißverständlich, denn es evoziert Vorstellungen, die mit ihrer Funktion nicht unbedingt kongruent sind) versehen wurde und welche von alters her die Aufrechterhaltung des Pax Deorum zum Ziel hatte, also das harmonische Miteinander von Göttern und Menschen, verlor wohl über diese dynamische Zeit hin den Kontakt zu und die Relevanz für den einzelnen Bürger.
Neben dieser offiziellen staatlichen Religion pflegte man aber immer die Sacra Privata, also den häuslichen religiösen Kult, in dem die Menschen bis zuletzt fest verwurzelt waren. Dort trat man in einen intimeren Kontakt mit den Göttern, Laren und Ahnen, näherte sich ihnen auf einer mehr persönlichen Ebene, um aber auch in diesem Rahmen für sich und seine Familie den so wichtigen Pax Deorum zu sichern.
Ab einer gewissen Zeit kam es zu einem Aufschwung der sogenannten Mysterienkulte (von griechisch μυστήριον/mysterion = Geheimnis), die aus Griechenland kommend im römischen Herrschaftsgebiet einen zunehmend regen Zulauf hatten. Die Kulte der Demeter, des Dionysos, die originär ägyptischen Götter Isis und Osiris, die über das Reich der Toten herrschen, die Große Göttermutter Kybele aus dem kleinasiatischen Raum bis hin zum aus Persien stammenden Lichtgott Mithras bereicherten und veränderten das Bild der religiösen Vielfalt im Römischen Reich. Dies waren Kultgemeinschaften, die nicht immer nur neue Götter verehrten, sondern oft jene, die auch sonst in der Bevölkerung Teil des religiösen Lebens waren, aber dies in einem esoterischen Rahmen vollzogen, die diverse Abstufungen der Zugehörigkeit kannten.
Während die Staatskulte reglementiert und auch in politische Strukturen eingebunden waren, die für die Menschen im übergeordneten Sinne Bedeutung hatten, indem sie den Frieden und den Wohlstand des Reiches an sich sicherten und die Bürger an Festtagen einbanden, versuchte man in den Mysterienkulten jetzt vor allem einen spirituellen Bezug des Individuums mit einem oder mehreren Gottheiten zu etablieren.

Der Mithraskult war zeitweise einer der beliebtesten Mysterienkulte im römischen Reich und lieferte sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit dem Christentum. Vermutlich aufgrund seiner Aufnahmerestriktionen (nur Männer durften Mitglied werden) lief ihm das offenere Christentum, dass auch Frauen und Menschen aller Stände und Ränge aufnahm, den Rang ab (Bild: Museum der Pfalz Speyer, eigenes Foto)
Über bestimmte kultische Darstellungen und besondere rituelle Einweihungen in die Geheimnisse der in diesen Gruppen tradierten Mythen wurde eine Perspektive für den Einzelnen in seinen Sorgen auch und gerade bezogen auf das Schicksal nach dem Tod vermittelt. Dies war möglich, weil in diesen Kulten oft der Topos der dem Tode verfallenden Gottheit im Fokus stand, die den Menschen in ihrer Leidensfähigkeit, im Erlebnis von Tod und Trauer somit als nahestehend vermittelt wurden und in einer mythisch dargelegten Auferstehung oder Wiedergeburt Hoffnung über das körperliche Ende ausdrücken konnte.

Die „Mondsichelmadonna“ hat große Ähnlichkeit zu römischen Isisdarstellungen (Gemälde in der Anna-Kirche in Bachem, eigenes Foto)
Die diversen Bilder von der Zerstückelung des Dionysos oder des Osiris, die Verschleppung der Persephone in die Unterwelt, die Kastration des Attis und andere wären hier zu nennen, die aber alle diesem spezifischen Thema der Mysterienkulte zuzuordnen sind, welches den Eingeweihten – den sog. Mysten ( von griech. mýein (μύειν) was „sich schließen, zusammengehen, den Mund, besonders aber die Augen (ver)schließen, einschlummern“ bedeutet) durch eine ritualisierte immerwährende Teilnahme an der Geschichte der Gottheit in eine persönliche Transformation hineinführt, die der Einzelne als Rettung empfand. Als Ausnahme wäre an dieser Stelle evtl. der Mithraskult zu nennen, der zwar grundsätzlich zu den Mysterienkulten gehört, dessen zentraler Mythos sich aber in diesen Punkten unterscheidet, beziehungsweise sich letztendlich nicht vergleichen lässt, weil wir über ihn in diesem spezifischen Punkt nur mythologische Bruchstücke (ausgesandt von einer väterlichen Gottheit, um die Welt zu erretten; Tötung des (kosmischen) Stiers) kennen, die aber gleichwohl in diese Richtung deuten.
Diese Kulte, die sich, wie schon erwähnt, von der Peripherie des Reiches her kommend, besonders aus Griechenland, immer weiter im römischen Reich ausbreiteten, verloren dabei zunehmend, je mehr sie im Imperium Romanum Fuß fassten, ihren anfangs fremdländischen Charakter. Sowohl die Darstellung ihrer zentralen Gottheiten, wie auch kultische Aspekte wurden dabei im Zuge dessen dem römischen Verständnis und Geschmack angepasst und von Elementen bereinigt, die diesem allzu sehr widersprachen, wenngleich jedoch eine gewisse Aura des Geheimnisvollen in den Riten erhalten blieb, was die Menschen letztlich auch zu ihnen hinzog und ihr Charakteristikum war.
Anfänglich wurde diesen Kulten ausschließlich eine Wirkstätte extra pomerium zugewiesen, d.h. außerhalb des Pomerium, was eine sakralrechtliche Grenze, markiert durch weiße Steine war, die im eigentlichen Sinne Rom definierte und vom Territorium, welches zu Rom gehörte, abgrenzte. Diese religiöse Grenze trennte bestimmte Bereiche, so waren etwa Bestattungen nur außerhalb dieser Grenze erlaubt, bestimmte Tempel, z.B. für die Kriegsgötter Mars und Bellona waren jenseits dieser Grenze angesiedelt, Waffen durften von Soldaten innerhalb des Pomeriums nicht sichtbar getragen werden etc..

Attis aus dem Kybele-Kult findet sich auch in unseren Breiten und zeigt die weite Verbreitung dieses Mysterienkultes (Römisches Museum Remagen, eigenes Foto)
Neben dieser schrittweisen kulturellen Angleichung waren diese Kulte jedoch getragen von der Struktur ihrer Mitglieder, die ein konkretes Gemeinschaftserlebnis bot und ihrer besonderen Mission, eine bestimmte spirituelle Wahrheit zu verkünden, die sich in spezifischen mythischen Bildern und sakralen Handlungen ausdrückte, nicht etwa von einem Eingebundensein in die politischen Strukturen, wie dies bei den offiziellen Kulten der Fall war. Das bedeutete in der Anfangszeit zwar den Verzicht auf politische und finanzielle Unterstützung, erlaubte aber trotzdem eine Ausbreitung in der Bevölkerung, einfach weil bestimmte Bedürfnisse gestillt wurden, die offenbar weder die großen Staatskulte noch die häuslichen Riten in dieser Form befriedigen konnten.
Denn auch der individuell gepflegte häusliche Kult, der zwar nicht Ausdruck der Staatsloyalität war, wie die staatlich verwalteten Kulte, blieb dennoch einer gewissen Ebene verhaftet, die sich auf das alltägliche Leben und das Diesseits des Cultors bezog. Die Mysterienkulte brachen aus dem traditionellen römischen Verständnis von Religion insofern aus, als sie bestimmte theologische, philosophische und ethische Überlegungen und Maximen mit der Praxis eines Kultes verbanden und damit die der traditionellen Religion eigene orthopraktische Ausrichtung lockerten.
Gedanken über das, was den Menschen wohl nach dem Tode erwarten möge, Konsequenzen eines wie auch immer definierten guten oder weniger guten Lebenswandels, der persönliche Bezug des eigenen Lebens zur Geschichte eines Gottes, wie er in mythischen Geschichten tradiert wurde, metaphysische Deutungen derselben etc., all dies spielte und spielt (!) in der traditionellen Religio Romana keine Rolle. Diese ist, wie wir schon an anderer Stelle ausgeführt haben, rein bezogen auf eine korrekte Einhaltung der Umgangsformen von Menschen und Göttern, ist nur befasst mit den Formen des Umgangs und Respekts, deren Aufrechterhaltung das Zusammenleben von menschlichen, wie göttlichen Bürgern der Gesellschaft ermöglichen und fördern sollen. Denn im römischen Verständnis ging es weniger um die kosmische Dimension des Göttlichen in einem abstrakten Sinne oder um Götter als einer Metaebene verhaftete der Welt transzendente Entitäten, sondern ganz konkret um ein Hineinholen der Götter in den Staat, darum, sie auf das Wohlergehen des Staates zu verpflichten – die von Rom verehrten Götter waren ebenso, wie jene, die ihnen opferten, Bürger dieses Staates und eben daraus erklärt sich das Konstrukt des Pax Deorum, der die Grundlage und Sicherung der Macht des römischen Reiches bildete – Religion war staatstragendes Element.
Opus operatum vs. opus operantis
Moral war für Römer, wie auch für Griechen eine Realität an sich, war nomos, also ein Gesetz, das in der Wirklichkeit verankert und wirkmächtig war – die Götter waren weder Ursprung noch Regulatoren eines wie auch immer definierten Bestrebens zum Gutsein. Ethik, das gute Leben, Glück und wie man es erreichen kann, moralische Abwägungen als Richtschnur des menschlichen Handelns, die Natur der Seele und ihres Schicksals nach dem körperlichen Ableben etc. – dies war die Domäne der Philosophie, die sich in diverse Schulen und Traditionen aufteilte, welche leidenschaftlich über diese Fragen diskutierten. Welcher Schule man nun mehr zuneigte, welcher Philosoph einen eher überzeugte und ob man sich überhaupt mit diesen Fragen beschäftigte, das war für die Ausübung der Religion unerheblich, die sich im römischen Verständnis als rein performativer Akt konstituiert und eben nicht durch eine metaphysische Reflexion dieses Aktes.
Römische Religion war und ist nicht definierend mit inhaltlichen Konzepten dieser Art befasst, sondern hier hatte sich über die Zeit hinweg eine Tradition von kultischen Umgangsformen entwickelt, welche die Menschen verantwortlich sahen für den Erfolg, den das Römische Reich unzweifelhaft hatte. Die Römer fühlten sich unter dem Schutz der Götter stehend, sahen sich wegen dieser Beziehung zu den Göttern als zur Führung der Völker berufen und die stete Ausbreitung des Reiches gab ihnen in dieser Überzeugung recht. Wie Cicero sagt:
„pietate ac religione atque hac una sapientia, quod deorum numine omnia regi gubernarique perspeximus, omnis gentis nationesque superavimus“ („Durch Frömmigkeit (pietas) und Religion (religio) und durch diese einzige Weisheit, die uns erkennen ließ, dass alles durch den Willen der Götter regiert, gelenkt und gesteuert wird, haben wir alle Völker und Nationen überwunden.“ [Cicero, De haruspicum responso 19]
Was hingegen jemand glaubte oder dachte, solange er nur diese rituelle Etikette, die althergebrachten kultischen Formen beachtete, durch die er die Beziehung zu den Rom schützenden Mächten respektierte und weiter stärkte, war keine Frage, die irgend jemand stellte, denn sie hatte schlicht keine Relevanz. Es galt rein das Prinzip „do ut des“ (Ich gebe, damit Du gibst), nicht etwa ein „credo ut des“ (Ich glaube [an eine Wahrheit, ein Dogma, ein Bekenntnis etc.] damit Du gibst“!

Die Kapitolinische Trias, Jupiter, Juno und Minerva, waren die höchsten Götter des öffentlichen Römischen Staatskultes (Landesmuseum Trier, eigenes Foto)
Diese formale Sichtweise ging sogar soweit, dass Menschen, die sich sonst selbst als „aufgeklärte Römer“ betrachteten, wie etwa Cicero, ihren kultischen Verpflichtungen als Bürger oder sogar als Kultbeamte/Priester/Auguren wie selbstverständlich nachkamen, denn den dadurch gestifteten (auch gesellschaftlichen) Frieden wollte man nicht riskieren und aufs Spiel setzen. Der Respekt vor der Religion der Vorfahren, vor dieser etablierten kultischen Verankerung in der Beziehung zu den Göttern über die Zeiten hinweg, war entscheidend und damit für alle bindend und unabhängig davon, was sich der einzelne nun „theologisch“ dachte, was er akzeptierte, oder auch ablehnte. Religiöser Glaube an die Götter in diesem Sinne konstituiert sich als reines Tun, als Akt, der durch seine Vollführung diesen Glauben ausreichend – sowohl für die Gesellschaft, wie auch für die Götter – und vollumfänglich belegt.
An dieser Stelle sei gleich auf eine interessante Parallele hingewiesen, die wir in der Römisch-Katholischen Sakramententheologie finden und welche die Kontinuität dieser genuin römischen Sichtweise belegt, wie sie auch in den paganen Kulten deutlich wurde. Dort gilt ebenfalls nach wie vor das Prinzip, dass die kultischen Handlungen, hier genauer die Spendung der Sakramente und ihre (Gnaden-)Wirkung vom menschlichen Mitvollzug, also der Vermittlung durch den Priester unterschieden werden. In der Scholastik wurde betont herausgearbeitet, dass die Sakramente verstanden werden als „opus operatum“ (lat.: gewirktes Werk) und nicht als „opus operantis“ (lat.: Werk des Wirkenden), sie gelten also als wirksam unabhängig vom Spender und sind durch ihren korrekten Vollzug an sich gültig, selbst dann, wenn sie z.B. von einem unwürdigen Priester gegeben werden. Um an dieser Stelle Augustinus einmal wörtlich zu zitieren, die Sakramente sind:
„sacramenta per se sancta, non per homines (lat.: „durch sich heilig, nicht durch die Menschen“) [Augustinus, De baptismo, lib. I, cap. 21, n. 29; Epistula 89, 5].
Die einzige Bedingung für ihre Gültigkeit ist die grundlegende Absicht, sie durchführen zu wollen und dies bei Beachtung von notwendiger Materie, die dazu nötig ist und der Einhaltung der korrekten Form. Damit zeigt sich das römisch-katholische Verständnis heiliger Handlungen fest eingebunden in den römisch-paganen Verstehenskontext dessen, was grundsätzlich Religion ausmacht – sie ist in erster Linie vollzogener Kult (was kultlose Religionen nach römischer Definition als Widerspruch in sich kennzeichnet).
Dies wurde in der mittelalterlichen Tradition der Scholastik aufgenommen, aber eben mit Rückgriff auf die Ausführungen des Augustinus, der die Sakramentenlehre unter Rückgriff auf die Philosophie Platons entfaltete und solche begrifflichen Präzisionen von theologischen Konzepten im Rahmen der Kontroverse des Donatistenstreites im 4. Jahrhundert vollzog.
Das was die Frühscholastik dann für die römisch-katholische Tradition im 9.-12. Jahrhundert im Sinne der konsequenten Ausformung der theologischen Lehre aufgriff, waren also Konzepte, die tatsächlich weit zurückreichen. Augustinus ist deswegen ein gutes Beispiel, warum etwa die Kirchenväter für die Beschäftigung mit der Phase des Umbruchs von paganer Staatsreligion zur christlichen Sacra publica und zum Verständnis des Christentums von besonderer Bedeutung sind.
Denn neben der Tatsache, dass er als im 4. Jahrhundert wirkend noch sehr nahe an dieser Zeit ist, spielt eine Rolle, dass Augustinus etwa in seiner Familie eben diesen Umbruch auf ganz persönlicher Ebene selbst erlebte. Sein Vater Patricius, ein städtischer Beamter, war Anhänger der alten Religion, seine Mutter Monnica hatte sich bereits dem Christentum zugewandt und Augustinus wurde demnach nicht nur durch diese Einflüsse geprägt, sondern schuf nach seiner Konversion durch ein immenses Arbeitspensum ein gewaltiges Werk, das uns zur Gänze erhalten ist. Die Confessiones, Augustinus‘ autobiographische Betrachtungen enthalten etwa auch zahlreiche Informationen über den spätrömischen Alltag, die uns auch abseits der religiösen Ebene wertvolle Einblicke gewähren.
Im Sinne der rekonstruktionistischen Methode, die möglichst alle verfügbaren Quellen heranzieht, kann man also auch auf diese christlichen Quellen nicht verzichten.
Die historische Entwicklung des Frühchristentums, seine kulturellen Bruchlinien, der Trennung von Judentum und Christentum und der Entwicklung eines genuin römischen Christentums im Umfeld von sogenannten „Heidenchristen“ beleuchten wir ausführlich im nächsten Teil dieser Reihe.
Zu Teil III: Judenchristen und Heidenchristen

Artikel © D. Gratius Ludovicus, 11/2018