Wie wir schon in dem einen oder anderen Artikel ausgeführt haben, ist die Religio Romana eine „orthopraktische“ Religion. Da dieser Begriff immer wieder Fragen aufwirft, möchten wir ihn in einem zweiteiligen Artikel erläutern.
Teil I dieses Artikels beschäftigt sich mit den Hintergründen: woher kommt der Begriff und wie sieht die spezifisch römische Interpretation aus?
Teil II dieses Artikels wird sich mit der Bedeutung der Orthopraxie für den römischen Rekonstruktionismus, also ihrer praktischen Umsetzung in der heutigen Ausübung der römischen Religion beschäftigen und auf einige typische Fragen und Mißverständnisse eingehen, mit denen wir in diesem Zusammenhang immer wieder konfrontiert werden.

Jupiter, Juno und Minerva – die kapitolinische Trias (Trier, Landesmuseum)
Der Begriff kommt aus dem Griechischen und leitet sich ab von „ὀρθός“ (orthos) = „gerade, aufrecht, richtig“ und „πρᾶξις (prâxis) oder πρᾶγμα (prâgma)“ = „Handlungsweise“ und bedeutet übersetzt deshalb so viel wie „rechte Handlungsweise„.
Das Gegenstück (nicht zwingend das Gegenteil!) dazu ist die „Orthodoxie„, von „orthos“ = „recht“ und „δόξα“ (doxa) = „Meinung, Ansicht, Vorstellung, Glaube“, also „rechter Glaube„.
Der eigentliche Begriff „Orthopraxie“ ist ein Kunstwort, das erst Ende des 20. Jahrhunderts im theologischen Kontext im Rahmen der ökumenischen Bewegung zur Überwindung der Spaltung der Christenheit geprägt wurde. Unter anderem stellte Kardinal Ratzinger die Glaubenslehre, die Orthodoxie, der Orthopraxie im Sinne des gelebten Christentums in Form der Nächstenliebe gegenüber.
In diesem Sinne verwenden wir den Begriff an dieser Stelle nicht, sondern lösen ihn aus dem modernen christlichen Umfeld der Ökumene und nutzen ihn zur Beschreibung zweier Konzepte dem reinen Wortsinn nach.
Orthodoxie, d.h. die rechte Glaubensvorstellung, spielt in der Religio Romana – im Gegensatz zum Christentum, Judentum oder Islam -, keine Rolle. Zur römischen polytheistischen Religion (abgesehen vom Spezifikum der Mysterienkulte, in denen solche Ideen bereits angelegt waren) gehören keine theologischen Konstruktionen, Strömungen oder Schulen, Lehrmeinungen, religiöse Vorschriften (wie etwa die 10 Gebote oder Speisevorschriften), religiös motivierte Moralvorstellungen, festgelegte Gottesvorstellungen (zum Beispiel, ob man sich einen Gott körperlich vorzustellen hat oder als formloses Energiewesen, als Teil eines Ganzen oder als individuelles Einzelwesen etc.), Erlösungs- oder Jenseitsvorstellungen oder die Suche nach einem persönlichen Seelenheil.
Sie ist keine Heilsreligion, keine Offenbarungsreligion, die die Lehren eines bestimmten Gottes tradiert, es gibt kein niedergeschriebenes „Glaubensbekenntnis“ und keinen Religionsstifter. Der legendäre zweite König von Rom, Numa Pompilius, wird manchmal als Stifter bezeichnet, aber bei genauem Hinsehen entspricht seine Rolle nicht diesem Begriff in seiner umfänglichen Bedeutung – er war (sofern es ihn gegeben hat) der Stifter einiger wichtiger Kulte und setzte bestimmte Priesterämter ein, aber in einer polytheistischen Religion, die viele Kulte gleichberechtigt unter ihrem Dach vereint, lässt sich in diesem Sinne nicht von einem Religionsstifter sprechen, auf den die gesamte Religion zurückzuführen wäre.

Marcus Tullius Cicero hat uns dank seiner Schriften viele detaillierte Informationen über die römische Religion hinterlassen (Thorvaldsen-Museum, Kopenhagen)
Natürlich gab es all diese zuvor aufgeführten Themen und Fragestellungen trotzdem auch in der römischen Antike und sie wurden dort eifrig und zum Teil erbittert diskutiert.
Federführend hierbei waren aber keine Priester oder religiöse Autoritäten, sondern die meisten dieser Fragen fielen in den Bereich der Philosophie. Über die Natur des Göttlichen stritten sich zum Beispiel die Stoiker mit den Epikureern (unter anderem nachzulesen in Ciceros Streitschrift „De natura deorum„, „Über die Natur der Götter“). Hierbei muß man als interessanten Punkt betonen, daß die Philosophie ursprünglich ein Import aus Griechenland war, der sich zwar durch lateinische Übersetzungen, Diskussionen und Systematisierungen von Lehraussagen dann auch als Teil des römischen intellektuellen Lebens etablierte, aber es zeigt, das solche Ideen dem römischen Verständnis erst einmal fremd waren.
Ähnlich auffallend ist das Fehlen einer ausgearbeiteten Mythologie in der römischen Religion, obgleich viele der griechischen Götter mit den römischen identifiziert wurden und in der griechischen Vorstellung eine Bandbreite an mythologischen Bildern und Geschichten im Umlauf waren. Die klassische Römische Religion blieb sowohl von einem wertenden philosophischen Überbau, als auch von einer mythologischen Verortung der in ihr verehrten Gottheiten weitestgehend frei und stellte somit eine reine, ritualisierte Kommunikationsform mit dem Göttlichen dar.
Verbreitete Verhaltens- und Moralvorschriften, die zum Teil recht strikt waren, entstammten demzufolge auch nicht religiösen, gottgegebenen Vorschriften, sondern basierten auf Kultur und Tradition des herrschenden Gesellschaftssystems. Gerechtigkeit und an ihr orientiertes Handeln, sowie die gültige Moral wurden als selbstverständlich vorausgesetzt und galten nicht als „Gesetz gegeben durch die Götter“ , sondern als ein der Natur innewohnendes Prinzip, welches sich im subjektiven Gewissen des Einzelnen reflektiert, aber in seinen gesetzten Ansprüchen (denen man nun Folge leisten mag oder nicht) von den Göttern unabhängig ist.
Es gab keine einheitliche, allgemeingültige Lehrmeinung darüber, was nach dem Tod geschah, sondern es gab verschiedene Jenseitsvorstellungen und Debatten über eine Seele oder eine anders geartete Existenz nach dem Tod.
Was der Einzelne über die Götter dachte, oder ob man sich überhaupt mit derlei theoretischen Fragen beschäftigte (selbst das war weder notwendig, noch allgemein in der Bevölkerung verbreitet), war Privatsache.
In der römischen Religion ging es auch nicht um eine individuelle, persönliche, spirituelle, emotionale Beziehung zu einem Gott. Man konnte zwar durchaus einem Gott mehr zugetan sein als einem anderen und diesen zu seinen persönlichen Hausgöttern zählen, an die man sich mit seinen Anliegen wandte, jedoch stand dies nicht im Vordergrund des religiösen Empfindens, sondern der römische Ansatz war tatsächlich sehr pragmatisch und nüchtern.
Götter als Staatsbürger
In der römischen Religion steht die Orthopraxie, d.h. die „rechte Handlungsweise“ im Zentrum, wobei es im Prinzip keine Rolle spielt, was der Handelnde im Einzelnen glaubt oder denkt. Wichtig ist nur, daß die Handlungsweise im Umgang mit den Göttern korrekt ist und festgelegten Vorschriften folgt.
Dies führt dazu, daß die römischen Rituale, aber auch andere kultische Handlungen, strikten Vorgaben folgen und wenig Spielraum für eigene Variationen erlauben, da Form und Funktion im Vordergrund stehen.
Grundlage für diese Herangehensweise ist die römische Vorstellung, daß die Götter, ebenso wie die Menschen, „Bürger“ und damit Teil der Civitas sind, daß sie mit den Menschen zu einer Gemeinschaft gehören und die Gesellschaft mittragen. Als cívitas (Bürgerschaft) wurden bestimmte Verwaltungsbezirke bezeichnet, in die das römische Staatsgebiet eingeteilt war, in weiterem Sinne ist darunter die Gemeinschaft der Bürger zu verstehen, die in einer solchen Verwaltungseinheit erfasst waren.
Die Götter sind nach römischer Vorstellung zwar allgegenwärtig, hingegen nicht unfehlbar, nicht allwissend und allmächtig, dem Menschen aber dennoch überlegen. Dabei sind sie jedoch nicht interessiert daran, ihre überlegenen Fähigkeiten ständig zur Schau zu stellen; im Alltagsleben verhalten sie sich nicht wie Tyrannen oder Herrscher, sondern eher wie „Patrone“ oder weisere Mitbürger (Seneca, Epistulae morales ad Lucilium, Dt: „Briefe über Ethik an Lucilius“).

Das Fahnenheiligtum der XI. Legion, die jedes Jahr aus der Schweiz zur Villa Borg anreist, ist ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig der Kult in der Armee war – ohne sich der Gunst der Götter zu versichern, zog man in keine Schlacht
Wie alle Bürger haben dabei auch die Götter Rechte und Pflichten und tragen zum Gemeinwohl bei, um die Ordnung der Welt und ihre Verwaltung zu gewährleisten. Vorstellungen, daß die Götter sich nicht für die Menschen interessieren und sich aus ihren Angelegenheiten heraushalten, sind unrömisch und wurden schon in der Antike kritisiert (Cicero, De natura deorum I,3, Dt.: Vom Wesen der Götter).
Hier fällt deutlich auf, daß die Vorstellung von den römischen Göttern im Vergleich zu anderen Kulturen in vielen Aspekten gemäßigter war. Zum Beispiel galten bei den Griechen Götter als launisch und unberechenbar und mischten sich gerne aus selbstsüchtigen oder niederen Motiven in die Geschicke der Menschen ein. Eine solche Vorstellung paßt nicht zum römischen Konzept, eine Gottheit als pflichtbewußten Teil der Gemeinschaft zu sehen und auch in die Verantwortung zu nehmen.
„Religio“ im römischen Sinne bezeichnet deshalb die grundsätzliche Annahme der Götter als wohlwollende und gutgesinnte Partner der Sterblichen in der Betreuung und Verwaltung der Welt. Nach Cicero entspricht dies auch dem Begriff „Cultus Deorum„, der die Bedeutung des praktischen kultischen Vollzuges betont, also die formal korrekte Verehrung der Götter durch Beachtung eines von alters her gültigen Bezugsrahmens, der durch bestimmte Objekte, Rituale, Zeitpunkte und Orte sowie durch die gewissenhafte Einhaltung von Regeln definiert wird.
Eine Verletzung dieser Strukturen, also etwa eine Opferung, die nicht dem gültigen sakralen Prozedere entsprach, oder Fehler in der Intonation der Anrufungen und andere Dinge dieser Art waren „vitia“ (lat.: vitium = Fehler, Mangel, Gebrechen, Schaden) und führten zur Ungültigkeit des Ritus, so dass er von vorne begonnen werden mußte.

Waschung der Hände vor der Durchführung des Rituals (Haltern, 2014)
Der Religio gegenüber steht, als negatives Gegenstück, die „superstitio„, im römischen Verständnis als Begriff nach Varro und Cicero definiert als übertriebene, devote Frömmigkeit oder religiöse Ereiferung, religiöse Extremzustände und ungesunde sprituelle Fokussierung, zum Beispiel sich manifestierend in Form von tagelangem Beten und Opfern, als allgemeine Furcht vor den Göttern oder als Angst vor einem konkret strafenden Gott. Aber auch lähmender Aberglaube, sowie Magie und Divination, also der Versuch, sich selbst göttliche Kräfte oder Wissen um die Zukunft durch magische Mittel anzueignen fällt darunter, wie auch die Vorstellung, daß Götter die Kontrolle über den Geist eines Menschen nehmen, um dessen Gedanken zu kontrollieren oder ihm solche einzugeben. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes ist also wesentlich vielschichtiger und weitreichender als das Lehnwort im Englischen, das wir heute noch kennen (superstition, was rein Aberglaube bedeutet).
Einen ebensolchen Bedeutungswandel hat auch der Begriff „Atheismus“ erfahren. Der Begriff leitet sich wieder aus dem Griechischen ab ( ἄθεος = átheos „ohne Gott“) und wird heute verstanden als einfache Ablehnung der Existenz von Göttern, oder auch als offensive Bekämpfung einer solchen religiösen Vorstellung, in beiden Fällen aber als das Nichtglauben an Götter. In der römischen Antike gab es zwar auch Menschen, die in diesem Sinne Atheisten waren, aber es war das kultische Nichtanerkennen der Götter, was jemanden zum Atheisten machte – es bezeichnete jemand, der den Göttern (darunter war auch der Kaiser zu zählen) das Opfer und damit den ihnen gebührenden Respekt verweigerte. Da dieser kultische Respekt den Pax Deorum (Frieden zwischen Menschen und Göttern) sicherte, führte eine solche Pflichtverletzung auf Seiten der Menschen zum möglichen Ira Deorum (Zorn der Götter) und damit zum Schaden für die ganze Gemeinschaft. Wurde das Opfer durchgeführt, war es gleichgültig, was der Opfernde dachte oder glaubte, ein Atheismus in unserem Sinne war für das Religionsverständnis der Römer bedeutungslos und Christen galten eben nicht etwa als Fremdgläubige, die man nicht tolerieren wollte, sondern als Atheisten, die die Gemeinschaft in Gefahr brachten, weil sie die Teilnahme an den Opfern ablehnten.
Nach Cicero ist Religion => Kult nach festen Vorgaben und pflichtgemäße Verehrung der Götter.
Eine Vertragsangelegenheit
Der Umgang zwischen Menschen und Göttern ist quasi vertraglich geregelt – und zwar in Form der Elemente, die zur Einhaltung des schon erwähnten „Pax Deorum„, des Friedens mit den Göttern, nötig sind und die die Pflege eines tadellosen Verhältnisses mit ihnen gewährleisten. Dieses Vertragsverhältnis verpflichtet wiederum die Götter dazu, der Civitas Schutz zu gewähren, und die Bürger „bezahlen“ dafür mit der Durchführung bestimmter vorgeschriebener Riten und Opferhandlungen zugunsten der Götter, die diese Aufmerksamkeit als Respekt einfordern.
Deswegen steht bei der römischen Religion weder persönliche Hingabe, noch rechter Glaube im Vordergrund oder spielt überhaupt eine Rolle, sondern nur das Erfüllen eines gemeinsamen Interesses: sie regelt ganz elementar das Zusammenleben zwischen Menschen und Göttern.

Pontifex Cn. Cornelius Lentulus führt eine Opferzeremonie anläßlich der Floralia durch (Foto mit freundlicher Genehmigung des Aquincum Museums Budapest http://www.aquincum.hu/) und Cn. Lentulus
Für das Wohl des römischen Staates als Ganzes war der Staatskult zuständig, die Sacra Publica. Diese sicherte das Wohlwollen der Götter und garantierte den Schutz des römischen Volkes und galt lange Zeit als der eigentliche Grund für die erfolgreiche Expansion des Römischen Reiches was wiederum dem Selbstverständnis der Römer als „auserwähltes Volk„, das unter dem besonderen Schutz und der Gunst der Götter stand, als Grundlage diente.
Die Rituale des Staatskultes waren öffentlich. Geleitet wurde der Staatskult von Priestern (die eigentlich eher als Kultbeamte anzusprechen sind und weniger dem heutigen Verständnis eines Priesters entsprachen) und Magistraten, deren Pflicht es war, die jeweiligen Rituale stellvertretend für die Bürger durchzuführen. Das Wohl des ganzen Staates hing dabei von der korrekten Durchführung ab. Aus diesem Grund waren die Regeln, die bei Riten einzuhalten waren, im Staatskult deutlich strikter als im Privatbereich, wo man Götter durch eine Entschuldigung („falls ich im Ritual etwas falsch gemacht haben sollte, verzeiht bitte den Irrtum eines Sterblichen„) und ein Weihrauchopfer relativ unproblematisch besänftigen konnte.
Im Staatskult führte ein Fehler im Ritualablauf (vitium) oft zu dessen Abbruch, sei es, daß der Priester sich versprach, daß eine Opfergabe verschüttet wurde oder der Ritualmusiker sich verspielte. Ein Ritual wurde in diesem Fall komplett von vorne begonnen und es gibt Berichte von Riten, die etliche Male neu begonnen wurden, zum Unmut der anwesenden, genervten Bürger. Plutarch berichtet zum Beispiel von einem Opferritual, das dreißig Mal wiederholt wurde, weil man jedes Mal glaubte, daß es im Ablauf einen Fehler oder gar eine Beleidigung der Götter gegeben hätte (Plutarch, Coriol 25.3). Auch wissen wir von einem Priester, dem seine Kopfbedeckung im Ritus abhanden kam und der deswegen gleich ganz aus dem Kollegium entfernt wurde. Ob ein Ritual oder Gebet als gültig und ordnungsgemäß beurteilt wurde, war sogar Inhalt von Rechtsstreitigkeiten und kam vor Gericht, wie Cicero uns überliefert.
Auch wurde nach dem Abschluß der Riten aufmerksam nach Zeichen („prodigia“) Ausschau gehalten, da römische Götter sich dem Menschen über Zeichen mitteilen (weniger, wie die Götter anderer Traditionen, durch persönliche Erscheinungen oder durch Worte). Während des Rituals war man bestrebt, alle unerwünschten Zeichen auszublenden, indem man seinen Kopf verhüllte („capite velato„) und dadurch keine Zeichen aus den Augenwinkeln wahrnahm und indem ein Tibicen, ein Ritualmusiker, nicht notwendigerweise schön, aber laut spielte, um mögliche akustische Zeichen zu übertönen und nur die Worte der Anrufung hörbar und damit wirksam werden zu lassen.
Im Staatskult waren Auguren für die Deutung der Zeichen zuständig und Auspizien („auspicia“) gehörten zu jedem Ritual dazu, wobei vielerorts auch pragmatisch nachgeholfen wurde, indem zum Beispiel erfolgverheißende Vögel nach dem Abschluß des Rituals von einem Helfer über den Platz fliegen gelassen wurden (natürlich blieb hier ebenso der Wille der Götter letztlich maßgeblich, denn es stand auch in so einer inszenierten Aktion in ihrer Macht, das Zeichen nach ihrem Willen zu gestalten). Auch gab es andere Möglichkeiten, positive Zeichen zu begünstigen. Cicero, der selbst Augur war, beschreibt in seinem Werk „De Divinatione“ („von der Weissagung“) unter anderem die Methoden der Auspizien. Die ständige Kommunikation mit den Göttern stellte sicher, daß man stets die Zeichen empfing und schnell Kurskorrekturen vornehmen konnte, wenn etwas den Vertrag zu gefährden drohte.

Juno Regina fand Aufnahme in den Staatskult nach einer Evocatio
Demzufolge wurde zu paganer Zeit im Fall von Katastrophen oder bei großen Niederlagen in der Schlacht vermutet, daß der Pax Deorum nicht mehr gewährleistet war. Dies führte zu großangelegten Entsühnungshandlungen und einem Sühneopfer („piaculum“), Aktivitäten, die den Frieden mit den Göttern wiederherstellen sollten.
Im Gegenzug dazu war man in Erfolgszeiten davon überzeugt, daß die großen militärischen Siege und wirtschaftlichen Erfolge des römischen Reiches unmittelbar und direkt auf den Beistand und das Wohlwollen der Götter zurückzuführen seien, weswegen man sich bestätigt sah, daß der eingeschlagene Weg der Richtige war. „Durch Frömmigkeit (pietas) und Religion (religio) und durch diese einzige Weisheit, die uns erkennen ließ, dass alles durch den Willen der Götter regiert, gelenkt und gesteuert wird, haben wir alle Völker und Nationen überwunden.“ (Cicero, De haruspicum responso 19)
Da durch die Einhaltung dieser Pflichten die Götter der römischen Civitas ihren Schutz zusicherten, trug die Störung des Pax Deorum in den Augen antiker Heiden zum Untergang des römischen Reiches bei, indem mit dem Übergang der Staatsreligion zum Christentum die Menschen ihren Teil des Vertrags nicht mehr erfüllten, da sie die alten, erforderlichen Riten nicht mehr durchführten. Dadurch sahen sich die Götter im Gegenzug nicht mehr zum Schutz des römischen Staates verpflichtet.
Do ut Des – Ich gebe, damit Du gibst
Der Umgang mit den Göttern war auch im Privatbereich wie ein Vertrag geregelt. Auch für den einzelnen Bürger galt es, sich mit den Göttern gut zu stellen und sie tadellos zu behandeln, um ihr Wohlwollen zu sichern und damit auch einen Teil dazu beizutragen, daß die Götter generell dem Menschen – und damit der Civitas gegenüber – positiv gestimmt waren. Deshalb war die Erhaltung des Pax Deorum auch für Einzelpersonen im Privatbereich wichtig und das Ziel kultischer Handlungen (neben dem Erlangen persönlicher Vorteile und Unterstützung bei Problemen durch die Gunst der Götter, was in der Volks- und Alltagsfrömmigkeit die dominierende Rolle spielte).
Grundlage des privaten Hauskultes, der Sacra Privata oder Cultus Domesticus, war auch hier die Annäherung des Menschen an die Götter aufgrund des „Do ut Des„-Prinzips, des „Ich gebe, damit Du gibst„. Dadurch schloß man mit einem Gott einen vertragsrechtlichen Handel ab, wann immer man ihn in einer privaten Angelegenheit um Hilfe bat.

In unseren Breiten opferte man den Göttern auf den Altären vor Umgangstempeln (also nicht im Tempel!), wie hier am rekonstruierten Merkur-Tempel bei Tawern
Wenn man ihn um Hilfe anrief, zum Beispiel in einer Familienangelegenheit, einer geschäftlichen Frage oder einer Gesundheitsfrage, so stellte man gleichzeitig auch immer eine „Bezahlung“ bei Einlösung des Vertrags in Aussicht, die man zu bringen gelobte („votum“).
Den guten Willen der Gottheit begünstigte man mit einem Voropfer („praefatio“), mit dem man sein Anliegen am heimischen Lararium oder Sacellum, den Hausschreinen, oder in einem Tempel vortrug. Dann stellte man, während man das Anliegen exakt formulierte, eine Bezahlung in Form eines weiteren Opfers in Aussicht, wenn dem Wunsch entsprochen wurde, zum Beispiel eine Votivgabe oder ein Weihestein mit einer Inschrift. Die Größe des Opfers richtete sich nach dem Anliegen und den finanziellen Verhältnissen des Opfernden.
Dies konnte bei wohlhabenden Privatleuten bis hin zur Stiftung eines Tempels gehen, wie eine Inschrift im Caiva-Tempel bei Gerolstein belegt: „der Göttin Caiva hat Marcus Victorius Pollentinus einen Tempel ganz auf seine Kosten geschenkt und für den ständigen Unterhalt dieses Tempels 100 000 Sesterzen gestiftet. Mit der Einweihung am dritten Tag vor den Kalenden des Oktober unter dem Konsulat von Glabrio und Torquatus hat er sein Gelübde gern und nach Verdienst eingelöst.„
Auch im Privatkult hörte und achtete man auf Zeichen, mit denen die Götter sich mitteilten, und führte private Auspizien durch.
Erfüllte eine angerufene Gottheit den Wunsch nicht, was ihm oder ihr natürlich immer freistand, war der Mensch ebenfalls nicht an die Einhaltung des Vertrags bzw. die Einlösung der versprochenen Opfergabe gebunden, weil er damit nichtig wurde. Man geht zwar vom generellen Wohlwollen der Götter aus, aber eine Pflicht, einer Bitte zu entsprechen, nur weil man ein Opfer anbietet, besteht selbstverständlich nicht. Die Opfergabe mußte deshalb auch nur bei Erfüllung gebracht werden, in dem Fall war dies jedoch bindend und durfte auf keinen Fall versäumt oder vernachlässigt werden, da man sonst Gefahr lief, die Gunst der Götter zu verlieren und beim nächsten Anliegen nicht mehr erhört zu werden. Der Pakt galt und gilt immer in beide Richtungen.
Diesen Teil der Pflichterfüllung des Menschen gegenüber den Göttern und der Götter gegenüber dem Menschen wird unter dem Begriff der „Pietas“ zusammengefasst, die neben der „Religio“ die zweite Säule der Religio Romana darstellt. Mit Pietas ist die vertrauensvolle Pflichterfüllung des Menschen gegenüber den Göttern gemeint, die aus einem inneren Antrieb heraus entspringt und praktiziert werden soll.
Die Pietas gilt umgekehrt auch – halten die Menschen ihren Teil der Vereinbarung ein, halten sich auch die Götter an ihre Pflichten.

Genius loci von Bad Wimpfen / Kreis Heilbronn. Die Stadtmauer ist als Kopfbedeckung dargestellt und zeigt an, das er für den Schutz der Stadt zuständig war (Landesmuseum Trier, Sonderausstellung „Der Traum von Rom – Die Römer im Südwesten“)
Im übrigen standen nicht nur Götter im römischen Cultus im Vordergrund; einen großen Anteil nahm der (originär römische) Larenkult ein, einem aus – stark simplifiziert gesagt – animistischen Konzepten entstandenen Ahnen- und Geisterkult, der entfernt mit dem Shintoismus vergleichbar ist. Die Idee einer durch bestimmte Kräfte („numen“) belebten Natur, belebter Orte, auch belebter Gegenstände und eine differenzierte Geisterwelt, für deren Umgang es ebenfalls Riten und Regeln gibt, findet sich in beiden Religionen.
Ahnenkult und Geistervorstellungen machten aber nicht nur einen wichtigen Teil der privaten religiösen Praxis der Bürger aus, sondern war auch in der Sacra Publica staatlich organisiert, zum Beispiel in Form von eigenen Kollegien. Diese kümmerten sich um bestimmte Wesenheiten oder Orte (hier wäre z.B. der Kult für die Lares Compitales, die an Kreuzwegen anzutreffen sind, zu nennen), und führten spezifische kultische Dienste an festgelegten öffentlichen Feiertagen aus, z.B. für die di Manes, die Geister der Toten und die Unterweltsgeister, sowie zur Besänftigung und Vertreibung der Larvae oder Lemuren, bösartiger Geister, die den Menschen Schaden konnten. Auch dies diente der Wahrung des öffentlichen Friedens und der Ordnung, da herumirrende und böswillige Totengeister diesen geordneten Zustand gefährdeten.
Der Larenkult ist in der Religio Romana deshalb ein ebenso fundamentaler Bestandteil für die religiöse Praxis wie die Interaktion mit den „großen“ Göttern.
Rituale nach Vorschrift
Das Konzept der Religio und der Pietas, sowie die Bewahrung des Pax Deorum, sind der Grund dafür, daß die Religio Romana in erster Linie Wert auf die korrekte Durchführung der althergebrachten Rituale legt. Dem liegt die Annahme zugrunde, daß Rituale und Interaktionen in einer genau festgelegten, traditionell althergebrachten Weise erfolgen müssen, weil dies seit jeher so festgelegt ist, sich bewährt hat und die Erfahrung lehrt, daß man dadurch das Wohlwollen der Götter gewinnt.
Da die Religion sehr durch festgelegte Rituale geprägt ist, kommt auch jeder Gottheit eine wichtige Funktion zu. Es ist wichtig zu wissen, an welchen Gott man sich mit welchem Anliegen wenden muß und welche konkreten Kulthandlungen ausgeführt werden müssen, welche Opfergaben geeignet sind, welche Formeln gesprochen werden müssen, wie das Ritual aussieht, um sich sein Wohlwollen in der Angelegenheit zu sichern.
Auch im privaten Kult vergewisserte man sich mehrfach, um sicherzustellen, daß man im Ritus keinen Fehler machte. Einerseits baute man die bereits zitierte Entschuldigungsfloskel am Ende eines Rituals ein, mit der man sich für aus Unwissenheit begangene Fehler und solche die man vielleicht nicht bemerkt hatte, entschuldigte. Zum zweiten war es nicht unüblich, bei der Aufzählung der Götter, an die man sich richtete, auch den „unbekannten Gott, dessen Namen man nicht kennt„, mit einzubeziehen, sowie eine Formulierung zu gebrauchen wie „seist Du Gott oder Göttin„, um ja niemanden zu verprellen.
Diese Einstellung gegenüber den Göttern und die Vorstellung, daß der Pax Deorum von jeder Einzelperson gewahrt werden muß, führt dazu, daß die korrekte, also rechte Durchführung von Handlungen, Vorrang hat vor jeglichen philosophischen oder theologischen Überlegungen. Diese sind erlaubt, diese sind sicherlich auch eine Bereicherung für den Diskurs, aber notwendig sind sie nicht – im Gegenteil, für die Religio Romana sind sie unerheblich und ein korrekt durchgeführter Ritus ist auch gültig, ohne sich jemals mit Philosophie, Gottesvorstellungen oder dem Jenseits auseinanderzusetzen.
Wie sich diese Herangehensweise und Sichtweise von Religion im praktizierten rekonstruktionistischen römischen Paganismus in der heutigen Zeit auswirkt, zeigen wir in einem unserer nächsten Artikel.
Quellen und Fachliteratur, die für diesen Artikel verwendet wurden:
-
Artikel © Q. Albia Corvina, 01/2017
Pina Polo, Francisco: Rom, das bin ich: Marcus Tullius Cicero, ein Leben
- Cicero: De natura deorum
- Seneca: Briefe an Lucilius
- Rosenberger, Veit: Gezähmte Götter: das Prodigienwesen der römischen Republik
- Noelke, Peter: „Weihaltäre mit Opferdarstellungen und -bezügen in der Germania Inferior und den übrigen Nordwestprovinzen des Imperium Romanum“
- Hülsen, Karin: Tempelsklaverei in Kleinasien: Ein Beitrag zum Tempeldienst in hellenistischer und römischer Zeit
- Klinghardt, Matthias: Prayer Formularies for Public Recitation. Their use and function in ancient religion