Kurzübersicht: Die Genien
Hinweis: Ausführliche, allgemeine Informationen zum Genius folgen beizeiten in diesem Blog, deshalb hier nur eine kurze Übersicht.
Römer kannten zahlreiche Genii (Plural von Genius), die sich im Laufe der Zeit von einfachen Schutzgeistern zu zahlreichen spezialisierten Genien entwickelten.
Das Konzept des Genius war bereits bei den Etruskern bekannt, entfaltete und differenzierte sich im römischen Privat- und Staatskult aber weitreichend. Als „Geister“ waren sie die individuelle Instanz einer generellen göttlichen Natur, die nach römischem Verständnis jedem Individuum, jedem Ort, jeder Sache innewohnte und die für deren Schutz zuständig war.
So gab es den besonders im privaten Kult zentralen Genius Paterfamilias, der über den Haushalt inklusive all seiner Bewohner, Familienmitglieder, Bedienstete wie Sklaven, wachte und dessen Sitz man im Körper des Hausherrn vermutete (der weibliche Genius, der im Körper der Hausherrin wohnte, wurde Iuno genannt). Der Genius galt als mit dem Menschen verbunden, war aber nicht mit ihm identisch. Er sollte auch nicht mit Begriffen wie „Seele“ oder „Leben“ vermischt werden.
Daneben gab es Genien, Schutzgeister, die auf sehr eng umgrenzte private Bereiche des Lebens spezialisiert waren, wie etwa den Genius Cunina („in der Wiege“), bis hin zu Genien, die die Stadt Rom, den ganzen Staat und das Volk beschützten (Genius Urbis Romae, Genius Populis Romani) und für die es Tempel, feste Feiertage mit öffentlichen Opfern und Veranstaltungen (wie den Ludi Genialici, den Spielen zu Ehren der Genien am 11. und 12. Februar) gab. Auch ganze Kollektive wie Legionen, Gemeinschaften, Vereine, Völker hatten einen eigenen Genius, genauso wie Orte, Stadtviertel, Märkte, Veranstaltungen (Genien des Theaters sorgten z.B. dafür, daß die Vorstellung ein Erfolg wurde), und selbst einfache Dinge wie Türen und Tore.
Mit dem Kaiserkult schließlich zog der Genius Augusti in die Reihen der Genien ein, der Geist des Kaisers, der im Kaiserkult anstelle des Menschen verehrt wurde, der jeweils gerade dieses Amt bekleidete. Ein Eid auf den Kaiser und die Verehrung des Kaisers war deswegen immer auf den Genius bezogen.
Genii spielten im römischen Denken und Handeln eine zentrale Rolle, so daß man bestrebt war, sich immer auch an die Genien zu wenden, die einem bestimmten Unterfangen, einem Ort, einem Gegenstand oder einem anderen Aspekt, der die Angelegenheit betraf, zugeordnet waren.
Hunderte von Weihesteinen und Inschriften an die unterschiedlichsten Genien haben die Zeiten überdauert. Es gab auch standardisierte „Formeln“, die man verwendete, wenn man ein Opfer oder eine Bitte äußerte, aber nicht genau wußte, wie der Genius hieß, an den man sich wenden mußte oder welcher Genius an einem bestimmten Ort residierte. Dies ist auf Weihesteinen z.B. durch die Abkürzung „GHL“ zu erkennen, was für „genio huius loci“ („an den Genius dieses Ortes“) steht.
Im Jahr 392 n. Chr. wurde die Verehrung der Genien, zusammen mit dem Larenkult und der Verehrung der Penaten, durch Theodosius I. verboten. Nachweise, daß der Kult darüber hinaus im Privaten fortgesetzt wurde, finden sich bis in die Spätantike.
Genius loci
Mit „Genius loci“ (dt: „Geist des Ortes“) bezeichnete man die Genien, die an einem bestimmten Ort lebten und diesen beschützten.
Alle Orte hatten ihren eigenen Genius: Das reichte von kleinsten Bereichen (Stein, Baum, Teich, Tür, Tor, Fels, Strauch, Brücke, Hof, einzelne Räume eines Hauses, Bett, Keller, Kultplätze, Straße, Schrein, Hügel…) über größere Orte wie Tempel, Gebäude, Stadtviertel, Märkte, Theater, Arenen, Höhlen, Weinberge, Vulkane, Flüsse, Wälder bis hin zu ganzen Städten und Provinzen (wie Pannonien oder Britannien) oder Regionen (Wüsten, Gebirge, Meer).
Altäre und Weihesteine für Genii loci sind aus dem ganzen Römischen Reich bekannt und wurden an zahlreichen Orten gefunden, auch in Mitteleuropa nördlich der Alpen, wie in Germanien, Gallien und Britannien.
Darstellungen und Attribute
Der Genius loci hat keine einheitliche Darstellung, jedoch wird er bevorzugt als Schlange dargestellt. Daneben gab es abstrahierte Vorstellungen vom Genius, da er unsichtbar an einem Ort residiert, zum Beispiel in einem Vulkan oder einem nicht-faßbaren Ort wie einem Stadtteil oder einem Gebäude zugehörig ist.

Der Genius loci in Form der Schlange windet um den Altar, der Genius paterfamilias bringt ein Opfer dar
Ab der späteren Republik, in der figürliche Darstellungen häufiger werden (auch von Göttern, die zuvor oft ebenfalls abstrakt und gestaltlos verehrt wurden), findet sich auch eine Häufung bildlicher Darstellungen unterschiedlicher Genii. Während der Genius paterfamilias oft als Mann mit Toga und capite velato (mit bedecktem Haupt) dargestellt wird, sind andere Genien oft bärtig und mit freiem Oberkörper dargestellt, später auch als Jünglinge oder als geflügelte Wesen. Oft halten sie Füllhorn (cornucopia) und Opferschale (Patera) in der Hand.
Auch für den Genius loci sind unterschiedliche Darstellungsweisen bekannt.
Als Schlange wird er vor allem im Lararium dargestellt, wo er deswegen von den tanzenden Jünglingen der Penaten und Laren mit ihren Füllhornen und Schalen zu unterscheiden ist.
Auch an vielen anderen Orten, wie in Schreinen und auf Weihesteinen, ist er als Schlange überliefert, die in der römischen Symbolik als wohlwollende, sanfte Wesen gelten, die Frieden und Wohlstand bringen (und nicht, wie im Christentum, negativ behaftet sind). Die Schlange galt im Altertum als der Unterwelt zugeordnet, aber eben im positiven Sinne – sie steht für die Verbindung mit der Erde, vermittelt Wissen und Schutz. und ist unter anderem ein heiliges Tier des Gottes Asklepius (der Äskulap-Stab ist heute noch das Zeichen von Apothekern und Ärzten).
Eine andere Darstellung findet sich zum Beispiel in der Kirche St. Giles in Wiltshire in England, die von den Normannen aus altem römischen Baumaterial errichtet wurde. Hier findet sich eine Darstellung eines jugendlichen, lockigen Genius loci, der ein Füllhorn in der linken Hand und eine Patera in der rechten Hand hält.
Die Schlange ist jedoch die häufigste und am weitesten verbreitete Darstellung für den Genius loci, während die Darstellungen als Mann, Jüngling oder geflügeltes Wesen meist anderen Typen von Genii vorbehalten bleibt, die nie als Schlange dargestellt werden.
Kultgeschehen
Die Verehrung der Genii loci war sowohl im Privatkult (Sacra Privata) als auch im Staatskult (Sacra Publica) ein wichtiger Bestandteil.
Im privaten Bereich war der Genius loci Bestandteil jedes Larariums, so daß seine Verehrung fest mit dem Larenkult verbunden war.
Römer, die unterwegs waren und ein Opfer bringen wollten, brachten dieses nicht nur einer Gottheit dar, sondern oft auch einem „unbekannten Genius des Ortes“, der nicht näher bezeichnet wird, um nicht Gefahr zu laufen, einen lokalen Genius zu ignorieren. Zahlreiche Weihungen an einen solchen anonymen Schutzgeist oder Lokalgott des Ortes bezeugen diese Praktik. Oft wurden alle unbekannten Geister und Götter auch in einer Formel zusammengefaßt, die sicherstellte, daß man niemanden vergaß und überging: „di deaeque omnes“ („allen Göttern und Göttinnen“).
Ein Beispiel dafür, daß man stets den Genius loci als „Lokalgottheit“ eines Ortes einbindet, an dem man ein Ritual abhält, findet sich beim römischen Dichter Calpurnius Siculus bei der Beschreibung eines Opfers an Faunus an einem Schrein des Gottes auf einer Insel inmitten des Tibers: „Tum caespite vivo pone focum geniumque loci Faunumque Larsque salso farrre voca.“ („Dann errichte eine Feuerstelle mit frischem Gras und rufe Faunus und die Laren und den Genius des Ortes mit einem Opfer von Salat“).
Im Staatskult wurde der Genius loci der Stadt Rom verehrt. Lokale Gemeinschaften wie die Bewohner von Stadtteilen oder die Bürgergemeinschaften auf den Hügeln Roms verehrten ihre Genien ebenfalls gemeinsam bei öffentlichen Veranstaltungen.
Sonstiges:

Votivstein für I(upiter) O(ptimus) M(aximus) und den Genius Loci von Caius Candidinius Sanctus, Signifer der 30. Legion, für sich und seine Legion (Museum Nijmegen)
Befand man sich an einem Ort und fühlte „dessen Präsenz“, zum Beispiel inmitten eines Waldes oder an einem Fluß oder einem anderen Ort, so war man der Ansicht, dem Genius loci dieses Ortes begegnet zu sein. Das war kein bedrohliches Ereignis oder Erlebnis, sondern führte im Gegenteil in der antiken Welt gerade nicht zu Verwunderung oder Besorgnis. Die Anwesenheit eines Genius loci an jedem Ort galt als Selbstverständlichkeit und das Gefühl seiner Präsenz war ein gutes Zeichen. Nichts zu fühlen, quasi an einer ‚verlassenen‘ Stelle in der Natur zu stehen, hätte viel eher Grund zur Skepsis gegeben.
Erst mit mittelalterlichen Glaubensvorstellungen, in denen Geister und Dämonen als etwas Negatives betrachtet wurden (wobei das Wort Dämon auf das griechische δαίμων (daimon) zurückgeht und auch in dieser Vorstellung einen guten, oft mahnenden Geist (das Gewissen) beschrieb), erfuhr dieses Erlebnis einen Bedeutungswandel und es wurde als bedrohlich angesehen, wenn man die Präsenz eines Ortes spürte, das Gefühl, von diesem „beobachtet“ zu werden oder von unsichtbaren Wesen umgeben zu sein. Den Römer erschreckte ein solches Erlebnis nicht, sondern veranlaßte ihn allenfalls dazu, den Genius loci des Ortes zu grüßen und für die Dauer des Verweilens um dessen Schutz zu bitten. Dieser Brauch ist auch im heutigen Cultus Deorum üblich.
Der Begriff „Genius loci“ wird auch heute noch (bzw. wieder) in vielen Bereichen verwendet, vor allem in der Architektur, im Landschafts- und Gartenbau, in der Esoterik und Ökopsychologie. Man muß sich jedoch im Klaren darüber sein, daß das, was heute damit verbunden ist, nicht mehr der Vorstellung entspricht, die man in der Römischen Religion damit verband. Tatsächlich erfuhr der Begriff im Laufe der Zeit mehrfach einen Bedeutungswandel.
Das Christentum, das im Römischen Reich die polytheistische Religion ablöste, bestritt in seiner Anfangszeit nicht die Bedeutung eines Ortes als Sitz von Ortsgeistern, sondern transformierte genau diese Orte durch Überbauung mit sakralen Gebäuden wie Kirchen, kleinen Kapellen am Wegesrand oder Klöster in Orte einer „nicht näher bestimmbaren Spiritualität“. Aus nachrömischer, christlicher Zeit stammt auch die Vorstellung eines außerhalb des Körpers anzutreffenden, individuellen „Schutzgeistes“ in Form des Schutzengels.
Mit der Aufklärung verlor der Begriff „Genius loci“ seine ursprüngliche Bedeutung und Funktion als „Schutzgeist“ eines Ortes, der für den Römer noch untrennbar damit verbunden gewesen war. Die Natur und die Landschaft galten fortan als „unbelebt“ und bekamen ihre „Seele“, ihren „Geist“ nur durch die gestalterische und schöpferische Wirkung des Menschen.
In der Zeit der Romantik im 18. und 19. Jahrhundert wurde der „Genius loci“ wiederentdeckt. Insbesondere im Jugendstil herrschte ein regelrechter Boom, was an den überall auftauchenden Genius-Figuren in Gärten und Malereien zu erkennen ist. Im Unterschied zum römischen Verständnis beschreibt der Begriff heute aber nur noch abstrakt den „Geist eines Ortes“, das heißt, dessen Flair, dessen Atmosphäre, dessen Wirkung.
Aktuell beschreibt der Begriff ein Konzept der Architektur, das bestrebt ist, Landschaft und Bau wieder in ein harmonisches Verhältnis zueinander zu setzen. Auch im Garten- und Landschaftsbau wird der Begriff wieder verwendet, bis hin zu esoterischen Bewegungen, die Gebäude auf der Grundlage von „Energiefeldern“ und „ortsansässigen Naturgeistern“ gestalten und einrichten. Vom ursprünglichen antiken Verständnis sind diese modernen, gewandelten Begrifflichkeiten jedoch strikt zu unterscheiden.